Essen. In den 1950er Jahren bekamen Kinder im Essener Franz Sales Haus Psychopharmaka. Nun wird erforscht, ob es sich um Medikamententests handelte.

Die Geschehnisse liegen 60 Jahre zurück und wirken doch bei einigen Betroffenen bis heute nach: Als Kinder wurden ihnen im Franz Sales Haus hoch dosierte Psychopharmaka verabreicht. Vielen dürfte nicht einmal klar sein, was ihnen damals angetan wurde. Jetzt lässt das katholische Behindertenheim die fragwürdigen Medikamentengaben wissenschaftlich untersuchen – und bittet frühere Heimkinder, sich zu melden.

Denn allein aus den Bewohnerakten ließen sich nur wenig Rückschlüsse ziehen, heißt es im Franz Sales Haus. Erste Hinweise auf den mutmaßlichen Skandal hatte die Pharmazeutin Sylvia Wagner auch nicht in Essen, sondern im Archiv des Pharmakonzerns Merck in Darmstadt gefunden: Während der Recherche zu ihrer Doktorarbeit „Arzneimittelstudien an Heimkindern“. Bei Merck stieß sie auf eine Liste von 1958, der zufolge im Franz Sales Haus 28 Kinder das Neuroleptikum Decentan in der Erprobungsphase erhalten hatten.

Auch Ordensschwestern verteilten Pillen an Heimkinder

Auch diese Zeitung schrieb vor zwei Jahren über Wagners erschütternde Erkenntnisse: Die fünf bis 13 Jahre alten Kinder litten demnach unter Schreikrämpfen, gelähmten Zungen, Nackensteifigkeit, Starrkrampf. . . Zumal Heimarzt Waldemar Strehl das zur Behandlung von Psychosen und Schizophrenie gedachte Mittel um ein Vielfaches überdosierte. Für Sylvia Wagner ein Hinweis, dass er Medikamententests durchführte.

Wie weit die Heimleitung von Strehls Vorgehen wusste, ist unklar. Vorgeblich „behandelte“ der Arzt besonders unruhige Kinder, sagt die Sprecherin des Franz Sales Hauses, Valeska Ehlert. Verteilt hätten die Pillen offenbar die Nonnen, die die Heimkinder betreuten: „Da sollten 30 pubertierende, teils verhaltensauffällige Jugendliche in einem Raum still sitzen. Die Ordensschwestern wussten sich wohl nicht anders zu helfen, als die Medizin zu verabreichen.“

Die übliche Diagnose lautete damals „Schwachsinn“

Aus heutiger Sicht sei so das kaum vorstellbar. Damals habe das Franz Sales Haus sogar als fortschrittlich gegolten, weil es eine Schule hatte. „Das Jugendamt ging davon aus, dass Kinder hier nicht nur verwahrt, sondern gefördert werden“, sagt Ehlert. So landeten neben geistig Behinderten auch Jugendliche dort, die aus zerrütteten Familien oder der Psychiatrie kamen: Auch bei sozialen Defiziten habe die Diagnose damals „Schwachsinn“ gelautet. „Wir vermuten heute, dass viele Kinder hier falsch platziert waren.“ Bitter: Es ist möglich, dass bei einigen von ihnen die geistigen Fähigkeiten erst durch die Medikamente eingeschränkt wurden.

„Wenn solche Mittel über lange Zeit hoch dosiert gegeben werden, kann das zu dauerhaften Schäden führen“, sagt Sylvia Wagner. Sie sei übrigens durch einen Betroffenen, der ihr von seinem Schicksal erzählte, auf das Thema gestoßen geworden. Ihre Doktorarbeit, in der es auch um andere Heime geht, solle spätestens 2019 erscheinen.

Frühere Heimkinder können ihre Akten einsehen

Im Franz Sales Haus habe sich bisher nur ein früheres Heimkind gemeldet, das von Dr. Strehls Medizingaben betroffen war, sagt Hubert Vornholt, der das Haus seit einem Jahr leitet. Man habe aber Wissenschaftler der Uni Bochum für eine umfassende Aufarbeitung gewonnen. Sie wollten auch Interviews mit Betroffenen führen.

Wie nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle im Jahr 2010 sei jeder frühere Heimbewohner willkommen, der das Gespräch suche oder seine Akte sehen wolle. Das sei man, so Vornholt, den Betroffenen schuldig: „Es kann schließlich sein, dass damals die ein oder andere Zukunft verbaut wurde.“

>>> SPURENSUCHE IM ARCHIV DER FIRMA MERCK

Sylvia Wagner promoviert zum Thema „Arzneimittelstudien an Heimkindern“. Im Merck-Archiv entdeckte die Pharmazeutin, dass der Arzt Waldemar Strehl in den 1950er Jahren Kindern im Franz-Sales-Haus teils hoch dosierte Medikamente verabreicht hatte. Als darüber 2016 berichtet wurde, erklärte das Franz Sales Haus, in seinem Archiv befänden sich „keinerlei Hinweise auf etwaige Medikamententests“.

Das Haus hatte sich jedoch bereits, als im Jahr 2010 etliche Missbrauchsfälle aus der Vergangenheit bekannt wurden, um Aufklärung bemüht und Betroffene kontaktiert. In den Publikationen „Heimerziehung im Essener Franz Sales Haus 1945-1970“ und „Die (fast) vergessenen Heimkinder“ (beide 2012) wurde zumindest schon thematisiert, dass Heimkinder „mit Psychopharmaka behandelt wurden“.