Essen. Sie sind in Rente und gehen doch arbeiten: Mal aus Freude, mal weil das Geld nicht reicht. Das Essener Projekt „Mäuse für Ältere“ berät sie.
Sie korrigieren Bachelor-Arbeiten, helfen bei der Steuererklärung, arbeiten im Frühstücksservice eines Hotels oder in der Ganztagsbetreuung an der Grundschule: Immer mehr Rentner suchen sich einen Job, und die Essener Initiative „Mäuse für Ältere – Arbeiten neben der Rente“ hilft ihnen dabei.
Die Idee hatten Wolfgang Nötzold (72) und Cornelia Sperling (69), vor fünf Jahren gingen sie an den Start. „Es gibt so viele Leute mit schrägen Berufsbiografien, die eines Tages mit einer kleinen Rente auskommen müssen“, sagt Cornelia Sperling. Darum sei ihr früh klar gewesen, dass Arbeit im Alter ein großes Thema werde. Die Zahlen geben ihr recht: Im vergangenen Jahr waren deutschlandweit 7,4 Prozent der über 65-Jährigen erwerbstätig, zehn Jahre zuvor lag die Quote noch bei 3,8 Prozent.
Hätte sie nur ihre Rente, müsste sie auf vieles verzichten
Sperlings Gespür für das Thema hat auch mit der eigenen Betroffenheit zu tun: In jungen Jahren war sie verbeamtete Lehrerin, arbeitete später freiberuflich als Journalistin und als Projektentwicklerin. Damit hatte sie zuletzt zwar ihre Berufung gefunden, doch im Jahr 2015 sollten auf ihrem Rentenbescheid nur 860 Euro stehen, dank Mütterrente sei die Summe inzwischen auf 1033 Euro geklettert. Sie habe auch etwas gespart und käme notfalls klar, „aber ich müsste doch auf vieles verzichten“.
Auch interessant
Als passionierte Projektentwicklerin hat sich Sperling nicht nur selbst einen Job gesucht, sondern gleich ein Angebot für andere mitentwickelt: Allmonatlich bietet „Mäuse für Ältere“ Austausch und Beratung in der „Wiederbrauch-Bar“ an der I. Weberstraße 15 im Nordviertel an. Vielen Ende 50- bis Mitte 70-Jährigen falle es leichter, in diese offene Runde zu kommen, als auf ein Amt zu gehen. Manche liegen nur knapp über der Grundrente, andere erhalten zwischen 1000 und 1500 Euro Rente: „Das reicht zwar fürs Leben, aber oft nicht für den Urlaub. Oder für die steigenden Mieten“, sagt Brigitte Wolter (71).
Vor 30 Jahren hatte sie einen Burn-out – nun hält die Arbeit sie jung
Die 71-Jährige ist ein besonderer Fall: Fast 30 Jahre ist es her, dass sie frühpensioniert wurde. Sie habe die Arbeit als Hauptschullehrerin geliebt, doch die Doppelbelastung als Mutter und in dem herausfordernden Beruf habe sie krank gemacht: „Totale Erschöpfung“ hieß damals die Diagnose, heute würde man Burn-out sagen. Nach langer Krankenzeit pendelte sie zwischen vielen Ehrenämtern und diversen Jobs, von der Arztpraxis bis zur Evag.
In fortgeschrittenem Alter unterrichtet sie nun wieder, gibt bei der Katholischen Familienbildungsstätte Englischunterricht für Senioren. „Arbeit ist für mich Lebensgestaltung, das hält mich jung“, sagt Brigitte Wolter. Dass es anders als bei ihren Ehrenämtern auch Geld gebe, sei ein positiver Zusatzfaktor: „Es ist schon toll, eine Belohnung zu bekommen.“
Jobangebote für Ältere: Zahlenmensch mit Erfahrung oder Schneiderin der alten Schule
Tatsächlich seien die Aussichten für arbeitssuchende Senioren nicht schlecht, sagt Cornelia Sperling. Angesichts des Fachkräftemangels setze mancher Arbeitgeber auf erfahrene Rentner. „Und Ältere sind für 450-Euro-Jobs prädestiniert.“ Ob gerade ein „Zahlenmensch mit Erfahrung“, ein Fahrer für die Frühschicht, eine „Schneiderin der alten Schule“ oder eine Aushilfe für den Reibekuchenstand auf dem Weihnachtsmarkt gesucht wird, erfährt man auf der Website der Initiative.
„Wir wollen aber keine Arbeitsagentur für Ältere werden“, betont Sperling. Vielmehr sei die Initiative mit Arbeitsagentur, Industrie- und Handelskammer, Jobcenter und anderen Stellen vernetzt, biete wichtige Informationen über Arbeitssuche, Steuern, Krankenversicherung. „Wer zu uns kommt, hat nicht am nächsten Tag einen Job, aber wir bringen ihn vielleicht auf die richtige Fährte“, sagt Friedhelm Liers. „Die Leute sind im Aufbruch, die wollen sich erstmal sortieren, fragen sich, wie es weiter geht.“
Gesprächskreis stellt sich in der Volkshochschule vor
Seit September 2014 trifft sich in Essen der Gesprächskreis „Mäuse für Ältere – Arbeiten neben der Rente“ monatlich: Die Teilnehmer tauschen sich über ihre Erfahrungen mit Bewerbungen und Jobs aus. So hat sich der Kreis zu Selbsthilfegruppe, Vermittlungsbörse und Beratungsstunde entwickelt.
Nachdem die Initiative ihre Arbeit 2017 im Essener Seniorenbeirat und in der Volkshochschule (VHS) vorgestellt hatte, regte das Seniorenreferat der Stadt an, einen Förderantrag zu stellen, um das Thema in Form eines Modellprojektes nach vorn zu bringen. Seit Oktober 2018 und noch bis Ende 2019 ist „Arbeiten neben der Rente: Information – Beratung – Vermittlung“ ein gefördertes Modellprojekt. Die Initiatoren hoffen auf eine Verlängerung des Projekts.
Am Dienstag, 12. November, von 18 bis 20 Uhr, stellt sich die Initiative „Mäuse für Ältere - Arbeiten neben der Rente“ in der Essener Volkshochschule am Burgplatz 1 vor. Infos: https://maeusefueraeltere.de/
Der 71-Jährige weiß das, weil es ihm vor einem Jahr genauso ging: 25 Jahre hat er bei einer Bank gearbeitet, wechselte später in die Industrie und arbeitete weitere 15 Jahre als selbstständiger Berater, bevor er Ende 2018 seine berufliche Karriere abschloss. „Nach einem so aktiven Berufsleben auf Null zu gehen, wäre unmöglich gewesen. Ich wollte fit bleiben, mich mit Dingen auseinandersetzen, mit denen ich bis dahin nichts zu tun hatte.“ Darum war er froh, dass er über die Zeitung auf „Mäuse für Ältere“ stieß, der Austausch habe ihm sehr geholfen.
Inzwischen hat Friedhelm Liers einen Job als Qualitätsprüfer bei der Ruhrbahn, fährt kreuz und quer durch die Stadt – und lernt eine andere Welt kennen. „Früher bin ich nie mit Bus und Bahn gefahren, ich tauche in ein völlig neues Milieu ein.“ Und zwar ausschließlich von Dienstag bis Donnerstag – denn die neue Freiheit des Rentnerlebens will Liers nicht völlig preisgeben. Immerhin finde er noch Zeit, freiberuflich Senioren zu beraten: beim Sortieren ihrer Unterlagen oder beim Umzug in ein kleineres Zuhause.
Die frühere Sozialarbeiterin geht heute putzen
Einige Rentner wählten den Weg in die Selbstständigkeit, verwirklichten spät ihre Träume. Andere suchten nach einem Job, der ihre Rentenlücke schließt, sagt Sperling. Wer früher in sozialen Berufen gearbeitet habe, möge übrigens oft nicht daran anschließen. „Die haben viel Verantwortung für Kinder, Jugendliche und Familien getragen und wollen das nicht mehr.“ So gebe es im Kreis nun eine Sozialarbeiterin, die heute putzen geht und froh sei: „Nach getaner Arbeit nimmt sie keine Sorgen mit nach Hause.“