Essen. . Brigitte Wolter ist Lehrerin aus Leidenschaft. Auch mit 70 Jahren kann die Essenerin es nicht lassen und bringt anderen Senioren Englisch bei.
Man lernt nie aus, so heißt es doch. Für Brigitte Wolter gilt das auch fürs Lehren. Die 70-Jährige ist Lehrerin aus Leidenschaft und kann es bis heute nicht lassen. Obwohl in Rente, gibt sie einmal pro Woche Unterricht und bringt anderen Rentnern Englisch bei – in einem ehemaligen Speisezimmer einer Familienbildungsstätte im Essener Stadtteil Heisingen. „Einmal Lehrer, immer Lehrer“, sagt sie schulterzuckend. „Wem reicht es schon, im Alter nur noch zum Senioren-Kaffeetrinken zu gehen.“ Kein Fragezeichen.
Doch Brigitte Wolter unterrichtet nicht nur mit Hingabe – sondern auch mit Spiel, Spaß und Gesang. Da dürfen die Rentner die Tierwelt nicht nur mit schnöden Vokabeln kennenlernen, sondern durch das Singen von „Old MacDonald had a Farm“: „Das ,e-i-e-i-o’ kommt bis heute noch einfach mal so mittendrin“, schmunzelt die Lehrerin.
Ein Leben lang eine Lieblingslehrerin
Kreatives Lernen hat die gebürtige Essenerin verinnerlicht. Insgesamt 20 Jahre unterrichtete sie Englisch, Deutsch und Kunst an der Hauptschule am Dahlbusch in Gelsenkirchen. „Da musste ich mir meinen Ruf erst einmal erarbeiten“, erinnert sie sich. „Aber ich habe mich immer sehr gut mit meinen Schülern verstanden.“ Ihr Geheimnis für einen guten Stand bei den Zöglingen? „Handlungsorientiertes Lernen bringt am meisten, es muss Sinn ergeben und verständlich sein. Aber genauso wichtig ist die Beziehung. Deshalb bin ich jedem Schüler mit genau der gleichen Achtung begegnet, die ich auch von ihm eingefordert habe.“
Dazu gehörte auch immer eine Portion Improvisation und Kreativität. „Schule und Schüler hatten oft kein Geld für Material. Da musste ich mir was einfallen lassen.“ Mit Erfolg: In den Sommerferien kamen ihre Schüler oft privat zu Besuch, es wurde zusammen gebastelt. Bis heute hat sie mit einigen ihrer ehemaligen Schüler Kontakt oder wird auf der Straße erkannt. Eine Lieblingslehrerin wie aus dem Bilderbuch.
Ein Leben ohne Arbeit ist für die Rentnerin unvorstellbar
Aus gesundheitlichen Gründen folgt 1992 der Bruch mit ihrem Beruf, Brigitte Wolter geht in Frühpension. Doch aufhören zu arbeiten, das kommt für sie nicht in Frage. „Ich reise doch so gern und wollte nicht aus finanziellen Gründen damit aufhören. Außerdem wollte ich mich nicht unnütz fühlen. Ein Leben ohne Arbeit stelle ich mir furchtbar leer vor.“ Sie engagiert sich in ihrer Heimatstadt, baut Mitte der 1990er die Essener Tafel mit auf. Später entdeckt sie das Café Schließfach, ein Treffpunkt für wohnungslose und drogenabhängige Mädchen und Frauen, arbeitet nebenbei auch dort. „Da mussten wir auch raus zum Straßenstrich. Im Café haben wir Brote, Getränke und Lümmeltüten gepackt und sie den Frauen gebracht.“ Viele Jahre arbeitet sie ehrenamtlich oder auf Honorarbasis in den verschiedensten Feldern, gibt Flüchtlingen Sprachunterricht und Schülern Nachhilfe.
„So richtig davon ablassen konnte ich nie“, sagt sie. „Ich habe das Soziale einfach in mir drin.“ Als sie 2017 das Angebot bekommt, in der Katholischen Familienbildungsstätte Senioren zu unterrichten, nimmt sie es begeistert an. Nach 20 Minuten hatte sie den Vertrag in der Tasche.
„Es ist spannend, wie ältere Menschen lernen“
So selbstverständlich ist es allerdings nicht, dass Senioren einen einfachen Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen. Auch Brigitte Wolter hat Altersdiskriminierung erlebt. „Dann sagen viele, sie würden sich noch einmal melden und rufen nie wieder an. Die trauen uns Senioren die Arbeit teilweise einfach nicht mehr zu.“
Dabei geht sie, wie viele andere Oldies, in ihrem neuen Job auf. Den Unterricht vorbereiten, Materialien heraussuchen – das macht der Lehrerin am meisten Freude. „Außerdem stellt es mich immer wieder vor neue Herausforderungen. Es ist spannend zu sehen, wie ältere Menschen Dinge verarbeiten und aufnehmen. Ich lerne ebenso von meinen Schülern wie sie von mir.“ Auch wenn sie anders mit den Senioren arbeitet, ist eine Sache genauso wichtig geblieben wie an der Hauptschule: „Mit Spaß und besonderen Elementen im Unterricht lernt man leichter. Um die Grammatik zu lernen, habe ich mir alle Namen aus den Familien aufgeschrieben und meine Schüler erklären lassen, wer denn Schwester und Tante sind.“
Zum Schluss eine Partie Bingo
Die bis zu zehn Teilnehmer zwischen 60 und 80 Jahren, die jede Woche bei ihr lernen, wollten oft etwas Neues für sich entdecken oder sich für eine anstehende Reise sprachlich wappnen. Ihre Schüler sind fleißig, sagt Brigitte Wolter stolz, „sie machen immer alle Hausaufgaben.“ Druck gibt es keinen, denn Vokabeltest und Klassenarbeit fallen weg. Deshalb darf jeder selbst bestimmen, wie viel er am Ende lernt. Auch das Lehrer-Schüler-Verhältnis sei ungezwungen, man versteht sich. „Das ist praktisch, wenn man im gleichen Alter ist. Mittlerweile wissen wir alle von den Krankheiten der anderen.“
Am Ende einer jeden Unterrichtsstunde holt Brigitte Wolter dann die Bingotrommel raus, zusammen wird gespielt – natürlich auf Englisch. Wer gewinnt, darf sich aus ihrer Kiste etwas Süßes oder ein kleines Likörchen nehmen.
Die 70-Jährige will lehren, bis sie an sich selbst Defizite feststellt: „Wenn ich merke, dass ich meinen Schülern nicht mehr helfen kann, weil ich selbst kaum noch auf die Antwort komme, dann muss ich aufhören.“ Natürlich merke sie das Alter, aber der Spaß an der Sache sei immer noch da. Genau wie der Stolz, am Ende des Tages etwas geleistet zu haben. Was letztlich bleibt: einmal Lehrer, immer Lehrer.
>> MODELLPROJEKT „MÄUSE FÜR ÄLTERE“ BRINGT SENIOREN ZURÜCK AN DEN ARBEITSMARKT
Brigitte Wolter will helfen. Ob Flüchtlingen, Schülern oder Frauen. Seit 2014 ist sie Teil des Modellprojekts „Mäuse für Ältere“. Der Verein setzt sich für Seniorinnen und Senioren ein, die den Weg zurück in die Arbeitswelt suchen – egal ob aus finanziellen oder persönlichen Gründen.
„Vielen reicht das Leben als Rentner nicht“, weiß die Lehrerin. Deshalb bietet sie innerhalb des Vereins individuelle Beratungsstunden an, bei denen sich interessierte Rentnerinnen und Rentner ganz unverbindlich informieren lassen können. „Man muss erst einmal herausfinden, was man eigentlich genau will, was für Erwartungen man hat“, erklärt sie. Denn auch wenn Brigitte Wolter selbst gerne wieder in ihren ehemaligen Beruf zurückgekehrt ist, wollen viele Ältere auch gerne nochmal etwas ganz Neues ausprobieren.
Weniger Stress, mehr Flexibilität
„Im Rentenalter setzt man andere Schwerpunkte“, sagt der 72-Jährige Wolfgang Nötzold, der „Mäuse für Ältere“ mitgegründet hat. „Viele möchten keinen Vollzeitjob mehr machen, wollen weniger Stress und mehr Flexibilität. Dafür eignen sich Minijobs gut, die nur ein paar wenige Stunden pro Woche in Anspruch nehmen, aber gleichzeitig den Horizont erweitern.“ Natürlich muss auch der finanzielle Aspekt passen, doch die neuen Erfahrungen seien mindestens genauso wichtig. Neben der Einzelberatung bietet das Modellprojekt, das seit Ende 2018 von der Stadt Essen gefördert wird, monatlich einen offenen Gesprächskreis an, bei dem Senioren sich austauschen und informieren können.
So hat es bisher einige Leute schon in einen ganz anderen Beruf verschlagen; als Aushilfe in einer Hotelgastronomie oder als Auslieferer für Medikamente.
Für die individuelle Beratung ist eine Anmeldung per Mail an beratung@maeusefueraeltere.de nötig. Die nächsten Termine sind am 29. Januar und 12. Februar. Der offene Gesprächskreis trifft sich einmal im Monat in der Essener „WiederbrauchBAR“ – der nächste Termin ist am 15. Februar. Das Treffen findet von 16 bis 18 Uhr statt, eine Anmeldung ist nicht erforderlich.