Essen. Seit 20 Jahren können sich auch Privatleute von ihren Schulden befreien. Ein Essener berichtet, wie ihn das Insolvenzverfahren rettete.
Der 19. November 2009 änderte das Leben von Martin P.*. Damals vor zehn Jahren stellte der Essener einen Insolvenzantrag. Er wollte nach langen Monaten voller Sorgen und Angst endlich raus aus seinen Schulden. „Ich fühlte mich total befreit, weil ich wieder eine Zukunftsperspektive sah“, sagt der Mann, der heute Anfang 40 ist. Seinen Namen will er öffentlich nicht lesen. Denn bis heute wissen nur wenige Menschen aus seinem engsten Umfeld von seinen Geldproblemen. Schulden seien ein Tabuthema, nichts, womit man hausieren geht, meint er. Selbst Jahre danach nicht.
Martin P. ist einer von 1300 Essenern, dem die Verbraucherzentrale in den vergangenen 20 Jahren geholfen hat, sich von ihren Schulden zu befreien. Die meisten haben das Verbraucherinsolvenzverfahren genutzt, das 1999 eingeführt wurde. „Bis dahin konnten wir den Betroffenen nur aufzeigen, wie sie ein Leben mit Schulden führen können“, sagt Insolvenzberater Volker Naujok und betont: Überschuldung bedeutete häufig ein lebenslanges Dasein am Existenzminimum in sozialer und wirtschaftlicher Ausgrenzung.
Verbraucherzentrale erlebt viele Vorurteile gegenüber dem Privatinsolvenzverfahren
Mit dem Verbraucherinsolvenzverfahren können überschuldete Menschen nach maximal sechs Jahren Wohlverhaltensphase ihre Schulden loswerden und wieder ein Leben ohne diesen Ballast führen. Martin P. erinnert sich noch genau, wie ihn die Schulden belasteten und sogar krank machten. „Mein Leben lag damals in Scherben vor mir“, sagt er. Er hatte 20.000 Euro Kredit aufgenommen, weil er sich als Fotograf selbstständig machen wollte. Doch in dieser Zeit scheiterte seine Ehe und in seiner Familie gab es einen tragischen Todesfall. Das alles habe ihn total aus der Bahn geworfen. Aus der Selbstständigkeit wurde nichts, und es blieben nur die Schulden übrig. Martin P. fiel in eine tiefe Depression. „Ich wusste nicht, wie ich da raus kommen sollte. Ich verließ kaum noch die Wohnung.“
Täglich riefen Inkassobüros bei ihm an, das Telefon klingelte oft mehrfach in der Stunde. Die Post der Gläubiger stapelte sich. „Ich bin nicht mehr ans Telefon gegangen und habe auch die Briefe ungeöffnet liegen lassen. Man will das verdrängen“, sagt Martin P. Volker Naujok kennt diese Geschichten zur Genüge. „Das ist ganz typisch.“ Viele Betroffene, so hat er erfahren, kommen erst sehr spät zu ihm, um Hilfe zu suchen. Meist versuchen sie lange Zeit, noch irgendwie selbst das Geld zusammenzukratzen und reißen damit häufig an anderer Stelle Finanzlöcher auf. Ein Teufelskreis.
Naujok wirbt daher für das Verbraucherinsolvenzverfahren, das bis heute viele immer noch nicht kennen oder große Vorurteile haben. „Darum ranken sich Märchen und Mythen“, hat er in den vielen Beratungsgesprächen festgestellt. Die meisten würden glauben, dass sie während der sechs Jahre einer regelrechten Kontrolle unterworfen seien. Doch das sei ein Irrtum.
Erstgespräch ist für viele Überschuldete schon große Hilfe
Das bestätigt auch Martin P. Sein Verfahren sei völlig geräuschlos abgelaufen. Da er während der Zeit Hartz IV bezog, und damit unter der Pfändungsgrenze lag, musste er auch nur selten seine Einkommensnachweise liefern. Anfang 2016 bekam er dann das Schreiben vom Gericht, dass sein Verfahren beendet sei. „Ja, das war ein schöner Moment. Doch viel wichtiger war für mich der Tag gewesen, als ich das erste Mal bei Herrn Naujok saß und er mir diese Perspektive aufzeigte. Ich kannte diesen Weg nämlich gar nicht.“
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Auch wenn Naujok bei Betroffenen dafür wirbt, das Verbraucherinsolvenzverfahren anzugehen, muss er bei ihnen gleichzeitig um Geduld bitten. Denn häufig dauere es viele Monate, bis der Antrag gestellt werden kann. Viele Überschuldete hätten mehrere Gläubiger, was das Verfahren aufwendig und langwierig mache. Naujok schafft gerade einmal knapp 100 Anträge pro Jahr. Insgesamt wurden bei Essener Gerichten im vergangenen Jahr 662 Anträge auf Verbraucherinsolvenzverfahren gestellt. Naujok weiß: Bei rund 70.000 Essenern, die als überschuldet gelten, ist es nur ein Bruchteil, die diesen Ausweg gehen können. „Auch ich würde gerne mehr Menschen helfen, aber mehr Fälle schaffe ich nicht“, sagt er. Über eine ähnliche Situation klagt im Übrigen auch regelmäßig die Essener Schuldnerhilfe. Die Folge sind Wartelisten, auf die sich Betroffene setzen lassen müssen. Verbraucherzentrale wie Schuldnerhilfe arbeiten mit diesem System.
Dennoch ist in vielen Fällen erstmal schnelle Hilfe gefragt. Volker Naujok hat eine Mail einer jungen Frau vor sich liegen, die in zwei Wochen ihr zweites Kind erwartet und nicht mehr weiß, wie sie ihren Schulden Herr werden kann. Sie kämpfe seit acht Jahren damit. „Ich komme ohne professionelle Hilfe da nicht mehr raus“, endet der Hilferuf.
*Name geändert