Essen. Die älteste Aldi-Filiale Deutschlands steht in Essen-Schonnebeck. Aber Ende 2020 gibt Aldi sein Stammhaus auf. Ein Blick in die Geschichte.
Genau 100 Jahre nach der Eröffnung gibt Aldi seine älteste Filiale in der Huestraße 89 in Essen-Schonnebeck aus Platzgründen auf: der frühere Tante-Emma-Laden ist die Wiege der Discount-Riesen Aldi Nord und Aldi Süd. Die beiden Konzerngründer Theo und Karl Albrecht kamen 1920 und 1922 in der Wohnung über dem Ladenlokal zur Welt, das hausintern unter „Markt Nummer eins“ bzw. „Aldi 1“ firmiert. Aldi hat das geschichtsträchtige Wohn- und Geschäftsgebäude in dem ehemaligen Bergarbeiter-Stadtteil deshalb zu seinem Stammhaus erhoben. Die gute Nachricht für die Schonnebecker Stammkundschaft: Aldi Nord will Ende nächsten Jahres in unmittelbarer Nähe – an der Saatbruch-/Ecke Karl-Meyer-Straße – einen neuen Aldi-Markt eröffnen, der mit 1287 Quadratmeter Verkaufsfläche doppelt so groß sein wird.
Norbert Scholz (52) leitet den Ur-Aldi seit anderthalb Jahren, für den Discounter arbeitet er schon seit dreißig Jahren. Kurios: Schon sein Vater Günter hat den „Aldi 1“ geleitet, das war zu Beginn der 1970er-Jahre, zuvor war er an der Huestraße zwei Jahre Ladenmetzger. „Es ist wirklich schade, dass wir diesen Standort aufgeben, aber wir sind hier einfach zu klein und haben keinen Platz für neue Produkte“, sagt Scholz. Aldi-Märkte der neuen Generation haben große Backwarenabteilung, die fehlt hier völlig. Und weil das Tiefkühlhaus fehle und keine Vorratshaltung möglich sei, müsse sehr genau nachbestellt werden.
Aldi weist auf den „hohen emotionalen Bezug“ hin, den die Gründerfamilie zum Stammhaus hat
Der Ur-Aldi ist ein langer, enger Schlauch, dem man ansieht, dass er ständig erweitert worden ist. Der Kassenbereich befindet sich zur Straße hin, hier standen Karl und Anna Albrecht vor 100 Jahren im Laden. In mehreren Schritten wurde angebaut, bis das Grundstück völlig zugebaut war. Am Ende gibt’s einen Parkplatz, der mit gerade mal 15 Stellplätzen ebenfalls mickrig ist und deshalb nicht dazu taugt, den Umsatz zu steigern.
Dem Unternehmen ist wichtig zu betonen, dass lediglich der Filialstandort aufgegeben werde. Es ist im Unternehmen ein offenes Geheimnis, wie sehr der Geschäftsführende Gesellschafter Theo Albrecht jun., der älteste Spross des Gründers, an dem Stammhaus hängt. In einer Presseerklärung heißt es: „Die Gründerfamilie hat sich aufgrund des emotionalen Bezugs zur Huestraße 89 dafür ausgesprochen, dass das Gebäude selbst auch in Zukunft im Besitz der Unternehmensgruppe verbleiben wird.“
Schonnebecker Werbeblock wirbt für ein Kaufladen-Museum im Aldi-Stammhaus
Aber was kommt danach? Ginge es nach Siegfried Brandenburg, dem Vorsitzenden der Schonnebecker Werbegemeinschaft, dann sollte das Aldi-Stammhaus künftig ein Museum beherbergen. „Reizvoll wäre ein Kaufladen im Stile der Gründerjahre, das wäre eine touristische Attraktion für Schonnebeck“, sagt Brandenburg. Ein ebenso charmanter wie ehrgeiziger Plan, für den er vor gut zehn Jahren schon den Patriarchen Theo Albrecht zu begeistern suchte. Ein halbes Jahr vor dessen Tod besuchte ihn Brandenburg in der Krayer Zentrale, um leidenschaftlich für sein Museumsprojekt zu werben. „Mein Eindruck war, dass Theo Albrecht von der Idee angetan war.“ Auch Peter Janda, Leiter Immobilien und Expansion bei Aldi Nord, kennt die Begehrlichkeiten der Schonnebecker Bürgerschaft. Er sagt: „Das Museum ist eine präsente Idee, aber die Zukunft des Stammhauses ist völlig offen.“
An der Fassade des Geschäftshauses deutet nichts darauf hin, dass ausgerechnet hier die Wiege des Discount-Riesen steht. Nicht einmal eine kleine Tafel weist auf den hohen Rang hin, den dieses Gebäudes in der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte einnimmt. Es steht für unternehmerisches Genie und verkörpert den unbändigen Optimismus der Wirtschaftswunder-Jahre.
Karl und Theo Albrecht lernten die Bedürfnisse der Bergarbeiter-Milieus kennen
Hermann Sczepurek (71) wohnt seit fast einem Viertel-Jahrhundert in Schonnebeck und ist Stammkunde im Ur-Aldi. „Ich habe erst viel später erfahren, dass dieses Geschäft der Grundstein des Aldi-Konzerns ist. Es ist erstaunlich, dass sich Aldi von hier aus so enorm verbreitet hat.“
Wer die Aldi-DNA begreifen will, muss sich hineinversetzen in die Tugenden des Bergarbeiter-Milieus wie zum Beispiel Maloche und Fleiß, Sparsamkeit und Qualität, Ehrlichkeit und Bescheidenheit. Karl und Theo Albrecht, die Erfinder des Discount-Konzeptes, wuchsen mit und in dem elterlichen Geschäft auf. Hier verbrachten sie ihre Kindheit und Jugend, hier absolvierten sie ihre Ausbildung zum Lebensmittelkaufmann. Und hier, so unterstreicht das Unternehmen heraus, hätten sie „die Bedürfnisse und Wünsche ihrer Kunden aus der Bergarbeiterbevölkerung genau kennengelernt“. Erfahrungen, die sie für ihr ganzes Händlerleben geprägt hätten.
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Nicole Scholz (49), seit 25 Jahren bei Aldi und seit 13 Jahren Verkäuferin in der „Filiale Nummer eins“, hat Theo Albrecht mehrfach persönlich erlebt. Sie berichtet von einem Schmunzel-Erlebnis, das viel über die tiefsitzende Bescheidenheit dieses schwerreichen Mannes aussagt: „Eines Tages kam Theo Albrecht in unsere Filiale und kaufte vor allem eingedellte und zerbeulte Konservendosen mit Lebensmitteln.“
1945 krempelten die heimgekehrten Söhne die Ärmel hoch und machten die Firma groß
Während Essen im Zweiten Weltkrieg von alliierten Bombenangriffen schwer getroffen wurde, blieb das Geschäftshaus der Albrechts weitgehend verschont. Ein Brandschaden von 1943 konnte schnell beseitigt werden und 1945 kehrten die Söhne Theo und Karl aus dem Krieg heim. Rasch krempelten sie die Ärmel hoch. Schon 1948 ließen sie die Tante-Emma-Welt hinter sich und begannen, einen Laden nach dem anderen zu öffnen. Ihr Trumpf: In einer Zeit der Knappheit und des Mangels erwiesen sie sich als Meister der Warenbeschaffung. Das Stammhaus in der Huestraße 89 diente für die ersten Jahre als Zentrale. Über das Lager im Hof lief die Belieferung der mittlerweile schon 30 Filialen. Weil die Tordurchfahrt dem Verkehr nicht mehr gewachsen war, nutzten die Brüder den Garten, damit Lastwagen schnell und bequem anliefern konnten. Peter Janda, der Immobilien-Chef, deutet auf den Keller des ersten Anbaus und sagt: „Hier befand sich Aldis erste Kaffeerösterei.“
Auch der neue Aldi wird die traditionsreiche Bezeichnung „Markt Nummer eins“ tragen
Der neue Aldi entsteht einen Steinwurf entfernt an der Saatbruchstraße auf dem Gelände der alten Schillerschule, in der die jungen Albrechts einst das Einmaleins erlernten. Das Gebäude, das zurzeit das Awo-Jugendzentrum beherbergt, wird abgerissen. Die Awo erhält dafür einen schmucken zweigeschossigen Neubau. Aldi-Kunden dürfen sich auf eine breite Produktpalette freuen und 79 Pkw-Stellplätze. Und wie nennt sich die neue Filiale dann? „Natürlich Markt Nummer eins“, sagt Peter Janda und schmunzelt.