Essen. Der Inhaber des Radler-Bistros am Niederfeldsee fühlt sich getäuscht. Der Radschnellweg RS1 wird fünf Jahre später fertig, als angekündigt.

Holger Kesting ist Inhaber des Bistros „Radmosphäre“ am Niederfeldsee in Altendorf. Wenn er aus den großen Fenstern seines Lokals schaut, blickt er auf den schmucken Radweg Rheinische Bahn: ein kleines Stück des Leuchtturmprojektes „Radschnellweg RS 1“. Aber seine Laune hebt sich dann nicht gerade. Denn den Gastronomen wurmt, dass die als Pionierprojekt angekündigte „Radautobahn“ durchs Revier gar nicht vorankommen will. „Von 101 geplanten Kilometern zwischen Duisburg und Dortmund sind gerade einmal zwölf teilweise fertig“, zieht er nüchtern Bilanz. Und fügt vorwurfsvoll hinzu: „Ich bin in der dritten Saison hier, in dieser langen Zeit sind lediglich 1200 Meter Strecke hinzugekommen.“

Die erste Machbarkeitsstudie prognostizierte: Der RS1 ist 2020 fertig

Als er das schicke Radfahrer-Lokal im Frühjahr 2017 eröffnete, klangen die Prognosen für den RS1 noch sehr euphorisch. Die klare Ansage, so Kesting, sei gewesen: 2020 werde der RS1 fertig sein. „Meine Entscheidung für diesen Laden hing maßgeblich an der zeitnahen Fertigstellung des Radschnellweges“, betont der 50-Jährige.

Freie Fahrt auf dem Radschnellweg Ruhr RS1 in Richtung Essen: Die beiden Radfahrer kommen auf der vier Meter breiten Asphaltpiste voran. Rechts daneben und durch einen kleinen Streifen getrennt: der zwei Meter breite Fußgängerweg.
Freie Fahrt auf dem Radschnellweg Ruhr RS1 in Richtung Essen: Die beiden Radfahrer kommen auf der vier Meter breiten Asphaltpiste voran. Rechts daneben und durch einen kleinen Streifen getrennt: der zwei Meter breite Fußgängerweg. © Essen | Kerstin Kokoska

Als der ursprünglich zuständige Regionalverband Ruhr (RVR) 2014 die erste Machbarkeitsstudie für die Ost-West-Piste vorlegte, wurde mit Prognosen um sich geworfen, die im Nachhinein geradezu fahrlässig wirken. Inzwischen ist der Landesbetrieb Straßen.NRW zuständig für Planung und Bau des Schnellweges, der staugeplagte Autofahrer von der überfüllten A40 herunterholen und auf den Fahrradsattel locken soll. Doch von der einstmals prognostizierten Fertigstellung 2020 redet dort niemand mehr. Der zuständige Projektleiter hat den Zeitrahmen kürzlich um mindestens ein halbes Jahrzehnt nach hinten verschoben. Seine Prognose gegenüber dieser Zeitung: Baurecht für alle RS1-Abschnitte frühestens 2025, komplette Fertigstellung zweite Hälfte der 2020er-Jahre.

„Die Stadt Essen hat den RS1 nur benutzt, um Grüne Hauptstadt Europas zu werden“

Von der Hochschule Ruhr-West am südlichen Ruhrufer in Mülheim führt der RS1 seit 2017 bis zum Essener Univiertel: eine direkte, kreuzungsfreie Verbindung zweier Stadtzentren. Ein kurzes, aber vorzeigbares Teilstück. Doch gleich danach ist planungstechnisch ordentlich Sand im Getriebe. Im Eltingviertel etwa ist unklar, wie es weitergeht: Wird der alte Bahndamm abgetragen? Wird der Radschnellweg dort tatsächlich mitten durch neue Häuser hindurch Richtung Osten führen? Und was ist mit der kritischen Passage bei Evonik Goldschmidt? Lauter offene Fragen. Kesting nimmt kein Blatt vor den Mund: „Ich habe den Eindruck, dass die Stadt Essen den RS1 nur benutzt hat, um Grüne Hauptstadt Europas zu werden.“

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Bei gutem Wetter stellt sich der Gastronom freitags an die Kreuzung Berthold-Beitz-Boulevard, wo der RS1 auf den lang ersehnten Brückenschlag wartet. „Ich verteile dort Eis-Gutscheine und befrage Radfahrer.“ Die meisten gäben an, Studenten, Alltagsradler und Berufspendler zu sein. „Touristen und sportlich Ambitionierte fehlen hier sehr“, sagt Kesting, der an der Erzbahntrasse bei Gelsenkirchen schon seit zehn Jahre die „Erzbahnbude“ für Radfahrer betreibt. „Dort habe ich ein ganz anderes Publikum als in Essen: vom Hartz-IV-Empfänger über den Touristen bis zum Universitäts-Professor ist alles dabei.“ Selbst Lokführer, die einst im Güterzug die Bahntrassen durchmaßen, schauten heute mit dem E-Bike vorbei.

„Das große Thema ist die neue Mobilität: raus aus dem Auto, rauf auf den Sattel“

In der Sackgasse zu sitzen, nicht voranzukommen mit dem RS1, die lange Leitung der Planer – das alles empfindet Kesting als „große Enttäuschung“. „Das große Thema ist doch die neue Mobilität, raus aus dem Auto, rauf auf den Sattel.“ Seine Radmosphäre versteht er als Plattform für Radfahrer. Dienstags trifft sich hier der Radfahrerstammtisch, zusätzlich ist sie Servicestation, die Flickzeug, Radwanderkarten und Erste Hilfe anbietet.

Trotz heftiger Rückschläge denkt Holger Kesting nicht daran, aus dem Biker-Bistro „Radmosphäre“ ein Allerwelts-Café am See zu machen oder gar den Standort aufzugeben. In Sachen RS1 hingegen bleibt er ausgesprochen pessimistisch: „Die 101 Kilometer möchte ich in meinem Leben gerne noch einmal fahren, aber ich glaube nicht mehr daran.“