Essen. Der Fall des toten Jungen wirft weiter Fragen auf. Gewerkschaft nennt dünne Personaldecke im Jugendamt als möglichen Grund für spätes Eingreifen.

Vier Tage nach dem Tod des zweijährigen Luis, der in einer Dachgeschosswohnung am Ellernplatz in Altenessen-Süd qualvoll verdurstete, bleiben viele Fragen unbeantwortet - auch die, warum das Essener Jugendamt nicht früher einschritt. Die Gewerkschaft Verdi verweist in diesem Zusammenhang auf die dünne Personaldecke als mögliche Erklärung.

Fakt ist, dass die Essener Polizei bereits am Sonntag, 14. Juli, in das Haus gerufen wurde, in dem die Familie lebt. Auslöser waren offenbar Streitigkeiten zwischen dem Vater (31), der weiter unter Mordverdacht steht, und seiner Frau, die zum Tatzeitpunkt am vergangenen Wochenende nicht in der Wohnung war.

Täglich geplante Familienhilfe ein Hinweis auf prekäre Verhältnisse?

Ein Polizeisprecher bestätigte auf Anfrage: „Wir waren am 14. Juli vor Ort und haben dort einen zuvor gemeldeten Streit geschlichtet.“ Hinweise auf körperliche Gewalt, sowohl unter den Eheleuten, als auch gegenüber den Kindern, habe es aber nicht gegeben.

Die Stadt hatte – wie berichtet – am Montag mitgeteilt, dass Sozialarbeiter und -pädagogen ab 1. August täglich die Familie aufsuchen sollten. Dem Jugendamt ist die Familie seit Ende vergangenen Jahres bekannt. Das wirft unter Praktikern Fragen auf, denn diese so genannte „Familienhilfe“ muss beileibe nicht täglich erfolgen – häufig bekommen problematische Familien ein- oder dreimal pro Woche Besuch vom Jugendamt, aber nicht täglich. „Da gibt es Abstufungen“, bestätigt Silke Lenz, Sprecherin der Stadt Essen. Details wollte sie nicht nennen, auch mit dem Verweis, dass es sich um ein laufendes Verfahren handelt.

Die Absicht, täglich einen Familienhelfer an den Ellernplatz zu schicken, könnte nach Einschätzungen von Experten ein Hinweis darauf sein, dass die Behörden sehr wohl wussten, dass bei der Familie sehr viel im Argen lag. Diese Einschätzung wurde aber am Dienstag von keiner Stelle offiziell bestätigt.

Verdursteter Junge: Bisherige Berichterstattung

„Häufig entsteht in Jugendämtern ein starker Sog zur Identifikation mit den Eltern“, sagt Rainer Rettinger vom Deutschen Kinderverein, der seinen Sitz an der Sommerburgstraße hat. „Das sprachlose und eher unsichtbare Elend der Kinder gerät dabei leicht aus dem Blick.“

Kritik vom „Deutschen Kinderverein“

Dass ab 1. August täglich ein Familienhelfer am Ellernplatz vorbeischauen sollte, sei zwischen den beteiligten Institutionen abgesprochen worden, berichtet Silke Lenz, Sprecherin der Stadt Essen. Sie betonte erneut, dass es nach Ansicht des Jugendamts keine Hinweise dafür gab, dass man die Kinder hätte sofort aus der Familie nehmen müssen und somit eine sogenannte Kindeswohlgefährdung vorlag. Für Rettinger vom Kinderverein stellt sich jetzt die Frage, „wer aufgrund der fehlenden Kindeswohlgefährdung oder Vernachlässigung die Entscheidung getroffen hat, nicht sofort zu handeln. Hinweise schien es genug zu geben. Wer hat die vorhandene psychische Gefährdung nicht gesehen?“

Der Vater hat unterdessen immer noch keine Aussage zum Motiv gemacht, erklärte die zuständige Staatsanwältin Elke Hinterberg am Dienstag. Die Juristin betonte: „Ich ermittle nur gegen die Täter.“ Das Jugendamt sei nicht Gegenstand ihrer Ermittlungen. Mitarbeiter des Amtes könnten eventuell im Laufe der Untersuchung als Zeugen gehört werden.

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Dennoch fragt auch die Linkspartei im Stadtrat nach der Rolle des Jugendamtes: „Wenn die Familie bereits seit Ende 2018 durch das Jugendamt betreut wurde, stellt sich die Frage, ob die Unterstützung durch sozialpädagogische Fachkräfte nicht bereits früher hätte erfolgen können und müssen? Immerhin sind die offensichtlich prekären Verhältnisse der Familie des Jungen dem Amt schon seit sieben Monaten bekannt“, erklärte die Fraktionsvorsitzende Gabriele Giesecke.

Überlastung des Jugendamts sei bekannt, kritisiert die Gewerkschaft Verdi

Martina Peil von der Gewerkschaft Verdi erklärte, die Personaldecke im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) des Jugendamtes sei viel zu klein, die Mitarbeiter fühlten sich völlig überlastet. Verdi fordere daher seit geraumer Zeit, dass sich die Situation deutlich ändern müsse. „Keiner bei der Stadt kann sagen, dass er davon nichts gewusst hat. Alle wissen Bescheid. Wir haben mehrfach darauf hingewiesen.“ Laut Peil hätten erst vor wenigen Tagen wieder Mitarbeiter so genannte Entlastungsanzeigen geschrieben, weil sie die Verantwortung nicht mehr übernehmen wollen und können.

Der WDR hatte kürzlich eine Umfrage unter den Jugendämtern im Land gestartet, um herauszufinden, wie stark der jeweilige Soziale Dienst in den Städten belastet ist. In Essen kommen demnach 69 Fälle auf einen Mitarbeiter – Essen nimmt damit einen unrühmlicher Platz vier ein. Im Durchschnitt aller befragten Städte lag die Fallrelation bei 39. „69 Fälle pro Mitarbeiter sind definitiv zu viel“, sagt Peil. „Das kann man nicht schaffen“. Zwar habe die Stadt mittlerweile zehn Stellen geschaffen, wovon aber erst sechs besetzt sind. Das bedeutete, dass auf die sieben ASD-Bezirke in Essen jeweils nur 0,85 neue Stellen entfallen. „Ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Peil. Denn der hohe Krankenstand und die hohe Fluktuation würden das kleine Plus schnell wieder aufbrauchen. Hinzu komme, dass viele junge und damit eher unerfahrene Kollegen hinzustießen.