Essen. 20 Essener hatten beim Bürgerforum potenzielle Flächen für den Wohnungsbau benannt. Das Ergebnis kommt nicht überall gut an.

Es war ein ereignisreicher Tag im November 2018, an dessen Ende Oberbürgermeister Thomas Kufen die Messe Essen mit einem Packen Flipsharts unter Arm verließ. Kufen sah zufrieden aus. Die allermeisten auch. „Wo wollen wir wohnen?“ Mit dieser Frage hatten sich im Saal Europa des Congress Centers 420 Essener Bürger auseinandergesetzt. Zum Abschluss des Bürgerforums konnte der Oberbürgermeister eine Karte mit ins Rathaus nehmen. Darauf eingezeichnet: 28 Freiflächen, denen die Stadt bei der Suche nach Grundstücken für den Wohnungsbau doch bitteschön Priorität einräumen möge. Kufen sprach von einem „Arbeitsauftrag“.

Oberbürgermeister Thomas Kufen verlässt das Bürgerforum zur Frage „Wo wollen wir bauen?“ mit den Ergebnissen unterm Arm.
Oberbürgermeister Thomas Kufen verlässt das Bürgerforum zur Frage „Wo wollen wir bauen?“ mit den Ergebnissen unterm Arm. © Foto: Socrates Tassos

Für die Stadt war das Bürgerforum ein Experiment. Es war der Versuch einer neuen Art von Bürgerbeteiligung als der altbekannten, bei der die Verwaltung den Bürgern auf schlecht besuchten Info-Abenden Bebauungspläne vorstellt und die Mehrheit der wenigen Zuhörer dem Vorhaben skeptisch bis feindlich gegenübersteht. Diesmal war alles anders. Mitarbeiter der Planungsverwaltung waren regelrecht euphorisiert ob des Ergebnisses.

Die Bezirksvertretungen kassieren eine Fläche nach der anderen wieder ein

Die Euphorie ist mittlerweile verflogen. Denn im Planungsamt müssen sie zusehen, wie die Politik in den Bezirksvertretungen eine potenzielle Fläche nach der anderen wieder einkassiert. Lediglich im Stadtbezirk IX – Werden, Bredeney, Kettwig – konnten sich die Politiker mit den 28 Flächen anfreunden, was nicht weiter überrascht. Denn keine einzige davon liegt in ihrem Bezirk.

Auch das war eine Antwort auf die Frage „Wo wollen wir wohnen“: Die Bürger möchten nicht, dass der grüne Essener Süden zugebaut wird. Dortige Flächen, welche die Verwaltung beim Bürgerforum als potenzielles Bauland vorgelegt hat, fielen durch und wurden als wenig geeignet oder völlig ungeeignet eingestuft. Wenn neue Wohnungen entstehen sollen, dann möglichst innerhalb bereits bebauter Areale. Daran will sich die Stadt orientieren.

Dass

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werden, bekamen die Verantwortlichen im Rathaus dieser Tage noch einmal schwarz auf weiß: Laut einer

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in Köln wird der Bedarf an neuen Wohnungen in Essen nur zu 72 Prozent gedeckt. Nach Berechnung des Instituts für Wohnungswesen, Immobilienwirtschaft, Stadt- und Regionalplanung (InWIS) fehlen in den nächsten 10 bis 15 Jahren 16.500 Wohnungen.

Die 28 ausgewählten Flächen böten rechnerisch Platz für 4600 Wohneinheiten

Um diese 28 Flächen geht es.
Um diese 28 Flächen geht es. © Grafik: Selina SielafF

Sollte die Stadt die von den Bürgern favorisierten 28 Flächen bebauen, wäre man nicht aus dem Schneider, aber einen großen Schritt weiter. Auf insgesamt 92 Hektar fänden laut Verwaltung 4600 Wohneinheiten Platz, zumindest rechnerisch.

Die Planungsverwaltung wird diese Zahl nach unten korrigieren müssen. Eine 5,6 Hektar große Fläche am Krupp Krankenhaus in Rüttenscheid steht gar nicht zum Verkauf, was der Verwaltung den Vorwurf einbrachte, sie habe schlampig gearbeitet. Gleiches gilt für eine von Wohnbebauung eingerahmte Freifläche an der Oberhausener Straße/Frintroper Straße, allein die Erschließung wäre ein Problem.

Hinter anderen potenziellen Baugrundstücken steht seit der Beratung in den Bezirksvertretungen (BV) zumindest ein dickes Fragezeichen. Die Skepsis wächst oft mit der Nähe zum Objekt. Diese Erfahrungen hatten die Stadtplaner schon häufig gemacht, wenn es um die Ausweisung von Bauflächen geht. In Bürgerversammlungen stünden oft diejenigen auf, und sprächen dagegen, die selbst ihren Besitzstand sicher hätten, sagt einer, der schon an vielen solcher Versammlungen teilgenommen hat. Wiederholt sich das nun trotz der neuen Form der Bürgerbeteiligung?

Auch am methodischen Verfahren des Bürgerforums entzündet sich Kritik

In der für Steele und Kray zuständigen Bezirksvertretung VII wurden jüngst Zweifel am methodischen Vorgehen beim Bürgerforum formuliert. Dort hatten sich Bürger in Kleingruppen mit jeweils einer potenziellen Wohnungsbaufläche auseinandergesetzt; 93 Flächen hatte die Verwaltung nach einer Vorauswahl vorgeschlagen. In den Kleingruppen verständigten sich die Bürger darauf, ob „ihre“ Fläche für den gewünschten Zweck geeignet ist oder nicht. Das fand nicht jeder überzeugend. „Ich jedenfalls könnte mich mit einem ungeliebten Bauvorhaben nicht leichter anfreunden, nur weil ich weiß, dass fünf, mehr oder weniger sachkundige Personen aus einem völlig anderen Stadtteil auch finden, dass hier ruhig gebaut werden sollte“, schrieb eine Bürgerin, die an dem Forum teilgenommen hatte, der zuständigen BV.

War die Mühe am Ende vergebens? Die Verwaltung will nach der Sommerpause darlegen, wie es mit den ausgeguckten Flächen weitergehen soll. Die Entscheidung liegt danach beim Rat der Stadt. Die Frage ist dann: Folgt die Ratsmehrheit aus SPD und CDU den Voten der Bezirksvertretungen? Oder setzen sich die Ratsfraktionen darüber hinweg? „Immer nur nein sagen – damit kommen wir nicht weiter“, sagt dazu der Vorsitzende des Planungsausschusses, SPD-Ratsherr Thomas Rotter. „Wir werden das mit unseren Kollegen in den Bezirksvertretungen diskutieren und sie auffordern: Sagt nicht, was alles nicht geht“, meint auch Uwe Kutzner, planungspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion.

Von „sehr gut“ bis „sehr schlecht“ geeignet

Für das Bürgerforum hatte die Stadtverwaltung 93 Flächen, insgesamt 320 Hektar, benannt. Die Bürger befassten sich in Kleingruppen mit jeweils einer Fläche und sollten dieser eine Priorität zuordnen – von „sehr gut geeignet“ bis „sehr schlecht geeignet“. Die Bürger stuften 13 Flächen (55 Hektar) in die Priorität 1 ein und 16 Flächen in die Priorität 2 (37 Hektar). Bis auf den Stadtbezirk IX (Werden, Kettwig, Bredeney) sind alle Stadtbezirke vertreten. Beide sollen vorrangig weiterverfolgt werden.

13 Flächen ( 40 Hektar) landeten in Priorität III, weitere 28 in Priorität IV (87 Hektar) und 23 (106 Hektar) in Priorität V. Die beiden letztgenannten wurden als „schlecht“ bzw „sehr schlecht“ eingestuft.

Die Ratsmehrheit scheint gewillt, Nägel mit Köpfen zu machen. Ob sie auch über die Köpfe der Bürger hinweg entscheidet, bleibt abzuwarten. In Borbeck haben jüngst 1200 Bürger mit ihrer Unterschrift klar gemacht, was sie von eine Bebauung am Düppenberg halten: nichts. Auch das nennt man Bürgerwille.