Essen. Die Erfindung kam aus den USA, aber der erste deutsche Motorroller entstand 1919 bei Krupp in Essen. Er ähnelt verblüffend dem heutigen E-Roller.
Die Fahrzeug-Lücke zwischen Fahrrad und Motorrad zu schließen, ist eine naheliegende Idee, die wohl deshalb auch nicht neu ist. Wenn in diesen Tagen die E-Scooter auch in Essen langsam die Straßen erobern, dann gibt es dafür ein historisches Vorbild: Vor genau 100 Jahren wurde bei Krupp in Essen ein Motorroller produziert, der den heutigen Modellen schon ziemlich ähnlich war, wenn der Antrieb auch durch einen Benzinmotor erfolgte. Der Motorroller war eine von vielen Produktideen, mit denen das Traditionsunternehmen nach dem Ersten Weltkrieg den beinahe kompletten Wegfall der Rüstungssparte zu kompensieren versuchte. Manches wurde ein Erfolg, anderes nicht.
Um es vorwegzunehmen: Der Krupp-Roller geriet zum wirtschaftlichen Flopp, die Zeit für ein solches Gefährt war ganz offensichtlich noch nicht reif. In der Werkszeitschrift „Kruppsche Monatshefte“ vom August 1920 klang das noch ganz anders. „Im Verkehrsbild der deutschen Städte dürfte sich bald in wachsender Zahl der Kruppsche Motorroller zeigen und ein gewichtig Wörtlein im zukünftigen Verkehrsleben mitreden“, hieß es.
Der Kompromiss zwischen Fahrrad und Motorrad
Wem das Fahrradfahren zu anstrengend, das Beherrschen des Motorrads aber technisch zu anspruchsvoll ist, für den stelle der Roller einen idealen Kompromiss dar, um „billig, sicher und bequem“ kürzere Strecken zu bewältigen.
Die dazugehörigen Bilder zeigen Postboten, aber auch einen Herrn in Anzug und Hut und – damals nicht unbedingt selbstverständlich – Frauen in luftiger Sommerkleidung, die das Gefährt offensichtlich ebenfalls mühelos beherrschen.
Auch interessant
Ein Fahrzeug für nahezu jeden, so jedenfalls suggerieren es die Bilder. Da die Plattform für die Füße sich nur zehn Zentimeter vom Boden abhebt, sei „die Sicherheit in belebten Straßen außerordentlich groß“, schreibt der Krupp-Autor. Das genau gilt auch beim modernen E-Roller als wichtiges Argument.
Auch interessant
Krupp verschleierte ein wenig, dass das Patent aus den USA kam
Leicht verschleiert wird die Tatsache, dass Krupp den Motorroller nicht entwickelt, sondern eine Lizenz aus den USA erworben hatte. Für Krupp war es eigentlich Ehrensache, nicht andere zu kopieren, sondern Exklusives zu produzieren. „Während des Krieges, der dem europäischen Festlande keine Zeit ließ, anderen Dingen nachzugehen, hat sich in Amerika die Entwicklung des Fahrzeuges bis zu einem solchen Grade vollzogen, dass es praktisch nutzbar ist“, heißt es deshalb ein wenig entschuldigend.
Verblüffend ist, dass schon vieles exakt so aussah und funktionierte wie heute. Trittbrett, kleine Räder, eine Stange zum Lenken und Festhalten. Anders als das amerikanische „Scooter“-Urmodell und auch anders als die E-Roller, hatte der Krupp-Roller einen klobigen Fahrradsattel, was ihm etwas von seiner Eleganz nahm. „Wollte man bremsen lehnte man sich leicht zurück, die Lenkstange kippte ein wenig, das Vehikel kuppelte automatisch aus und bremste“, schrieb jüngst die Zeitschrift Wirtschaftswoche. Zum Starten ging man den umgekehrten Weg.
Mit 2,4 PS auf immerhin 40 km/h Spitzengeschwindigkeit
Der 2,4 PS-Motor beschleunigte auf immerhin 40 km/h - bei der Qualität der damaligen Straßen, die oft noch aus holprigen Kopfsteinpflaster gebaut oder auch unbefestigt waren, eine durchaus gewagte Spitzengeschwindigkeit.
Angepriesen wird in den Monatsheften auch der geringe Platzbedarf. Die Lenkstange ließ sich umlegen und dann als Haltegriff nutzen, der Roller konnte dann ins Haus getragen werden, was bei 59 Kilogramm Gewicht aber nichts für zarte Hände war. Zum Vergleich: Die E-Roller heute wiegen um die 15 Kilogramm.
Wieviele der Gefährte in Essen gebaut wurden, lässt sich ohne aufwändige Archivarbeit nicht mehr ermitteln. Fakt ist, dass das Historische Archiv Krupp ein Exemplar besitzt. Unter den rund 1200 Exponaten, die das Archiv neben vielen Millionen Schriftstücken auf Villa Hügel bewahrt, dürfte der Motorroller das wertvollste Stück sein. Der Roller ist nach Angaben von Archivleiter Ralf Stremmel einer von nur drei oder vier, die weltweit noch existieren. Da Oldtimer mit vier oder zwei Rädern seit langem erstklassige Anlageobjekte sind, wäre im allerdings nicht beabsichtigten Verkaufsfall wohl durchaus eine fünfstellige Summe drin.
Mit dem Roller zum Praktikum in die elterlichen Fabriken
Alfried Krupp soll übrigens in jungen Jahren mit dem Roller vom Hügel in die Fabriken seiner Eltern gefahren sein, als er dort ein Praktikum absolvierte - so jedenfalls zitiert die Wirtschaftswoche aus einem Spiegel-Text von 1955. Möglich wäre das, denn der letzte Krupp, geboren 1907, war zeitlebens das, was man einen „Petrol-Head“ nennt. Er fuhr leidenschaftlich Auto (bevorzugt Porsche), besaß einen Flugschein und flog auf Reisen selbst. Ein Foto vom jugendlichen Krupp, wie er auf dem Roller über die Altendorfer Straße saust, gibt es, soweit bekannt, aber leider nicht.