Essen. Lucie Conrad verwaltet das künstlerische Erbe von Kurt Jooss. In Essen hat die Enkelin erstmals über die Vergabe des Jooss-Preises mitentschieden
. Als Kurt Jooss, einer der größten deutschen Tanzerneuerer, 1979 nach einem Autounfall auf der Fahrt zur Familie seiner Tochter Christina Conrad mit 78 Jahren stirbt, ist seine Enkelin Lucie knapp fünf Jahre alt. Zu jung, um zu begreifen, dass dieser frühe und traumatische Abschied vom Großvater ihr Leben für immer prägen wird. Doch schon von klein auf münzt sie den Verlust um in eine intensive Beschäftigung mit seinem Werk, betrachtet stundenlang alte VHS-Aufnahmen und begleitet ihre Tante Anna Markard, die ältere Jooss-Tochter und selbst Tänzerin, zu Ballettproben, „ich war ganz fanatisch“.
Diese intensive Beschäftigung mit dem Werk dauert an. Heute wacht die 44-jährige Produzentin als familiäre Vertreterin des Jooss Estates über das künstlerische Erbe des gefeierten Tanzpädagogen, Mitbegründers der Essener Folkwangschule und Gründers des Folkwang Tanzstudios, dem zu Ehren die Stadt Essen und die Anna und Hermann Markard-Stiftung seit 2001 alle drei Jahre den Jooss-Förderpreis für junge Choreografen vergeben.
Am 1. Juni ist es wieder soweit. Aus über 80 Bewerbungen aus 28 Staaten hat die hochkarätige Jury drei Beiträge für die Endausscheidung auf Pact Zollverein nominiert. Auch Jooss-Enkelin Lucie Conrad, die heute in London lebt, hat in diesem Jahr in der Jury gesessen. Das Ergebnis hat sie in der Wahrnehmung bestärkt, dass Jooss – Schöpfer des Meisterwerks „Der Grüne Tisch“ – bis heute Ermutiger für junge Choreografen sein kann, ihren ganz eigenen künstlerischen Ansatz zu entwickeln.
Eintauchen in die Familiengeschichte
Das berühmte Anti-Kriegs-Stück bringt der innovative Botschafter des „German Dance“ 1932 heraus. Schon wenige Monate später muss Jooss mit seiner Ballettkompanie nach England fliehen, weil er sich weigert, ohne seine jüdischen Mitarbeiter in Deutschland weiterzuarbeiten. Sechs Jahre führt er eine Tanzschule an der Dartington Hall School in Devon. Jenem Ort, an dem auch Lucie Conrad mit 16 Jahren einen Sommerkurs besucht. Auf dem Stundenplan steht damals auch die Beschäftigung mit dem berühmten Großvater. Für einen Moment erwägt die Architekten-Tochter, ihre Herkunft zu verschweigen „Wir sind dazu erzogen worden, uns nicht in den Vordergrund zu spielen.“ Doch sie überlegt es ich anders und wird mit offenen Armen empfangen. Später studiert sie an der De Montfort University in Leicester Kulturmanagement und schreibt sogar eine Dissertation über ihren Großvater.
„Der Tänzer Kurt Jooss“ heißt das Thema ihrer Arbeit. Sie taucht tief ein in Familiengeschichte, lebt zeitweilig bei Tante und Onkel in Amsterdam, inmitten des Jooss-Archivs und spürt, dass der Name Jooss immer wieder Inspiration und auch Türöffner ihres künstlerischen Lebens ist. Das Gefühl, dass da oben immer noch jemand an der Choreografie des Lebens mitstrickt, empfindet sie sogar privat. Als der britische Theaterchef Alistar Spalding den Grünen Tisch am Sudler’s Wells Theatre in London aufführen will, braucht er das Okay der Stiftung. Doch Spalding will das legendäre Stück entgegen den üblichen Gepflogenheiten nicht am Ende des Abends zeigen. Lucie Conrad ist empört und will sich den Kerl mal vorknöpfen. Heute sind die beiden verheiratet und haben zwei Kinder, acht und zehn. „Der Grüne Tisch“ wurde natürlich am Ende des Abends aufgeführt.
„Der Grüne Tisch“ bringt sie mit ihrem Ehemann zusammen
Dieser famose Totentanz, international gerühmtes Musterstück des „German dance“, hat schon zu Jooss’ Lebzeiten über 3000 Aufführungen erlebt und ist bis heute in der Welt zuhause – vom Tulsa Ballett in den Staaten bis zum Ballet du Rhin in Straßburg. Die Aufführungsrechte sind mit Bedingungen verknüpft, so wird eine Mindestanzahl von Probenstunden vorgegeben, um Jooss’ stilprägende Verbindung von klassischen und modernen Elementen mit der Suche nach der echten und wesentlichen Bewegung in den heute auf Leichtigkeit getrimmten Compagnien zu etablieren. „Den ,Grünen Tisch’ bringt man nicht in drei Wochen auf die Bühne“, sagt Lucie Conrad, die die Vielfalt der Künste inzwischen als gefragte Film-Produzentin für Tanz, Theater und Musik in die Welt trägt. Konzertaufzeichnungen von Simon Rattle oder Matthew Bournes gefeierte „Swan Lake“-Choreografie mit Männern zählen zu ihren Produktionen.
Sie selbst hat das Tanzen nach Anfängen als kleines Mädchen bald aufgegeben und sich der Musik und später dem Studium des Kulturmanagement gewidmet. Doch ihre Begeisterung für den Tanz will sie nun auch in Essen weiter tragen. Es sei ihr „Ehre und Herzensding“, den Jooss-Preis weiter zu unterstützen. Welcher der drei Bewerber aus China, Deutschland und Holland am Ende die mit 10 000 Euro dotierte Auszeichnung auf Pact Zollverein erhält, wird sich am 1. Juni zeigen. Man suche keine Jooss-Kopie, sondern eine starke und originale Stimme, sagt Lucie Conrad und freut sich auf die Preisverleihung.