Essen. . Die Vorwürfe wogen schwer, doch nun stellte man die Ermittlungen gegen einen Transplantationsarzt der Uniklinik ein. Wie kam der Fall ins Rollen?

Der Schock am Essener Uniklinikum war groß, als der Direktor der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie, Prof. Andreas Paul, im September 2018 in Untersuchungshaft kam: Schwere Körperverletzung, in einem Fall sogar Totschlag wurde dem 61-Jährigen vorgeworfen. Die Ermittlungen aber brachten dazu nichts Belastendes, am vergangenen Mittwoch (8. Mai) wurden sie gegen eine Geldauflage von 50.000 Euro eingestellt. Während die Uniklinik Essen erleichtert reagierte, kochte in sozialen Netzwerken die Stimmung hoch, von Klassenjustiz und Freikauf war die Rede: „Hat dieser Arzt gut geschmiert“, hieß es oder: „Da soll mir noch einer sagen, unser Land ist nicht korrupt.“

Arzt erfuhr „schwere persönliche Beeinträchtigungen“

Richtig ist eher, dass Prof. Paul durch die zeitweilige U-Haft, die monatelangen Ermittlungen und die öffentliche Aufmerksamkeit bereits über Gebühr bestraft ist. Sogar die Staatsanwaltschaft räumt ein, dass der unbescholtene Mediziner „erhebliche persönliche Beeinträchtigungen“ erfahren habe. Wie man hört, sei er an jenem Septembertag 2018 wie ein Schwerverbrecher vom Arbeitsplatz weggeführt worden. Als er gut eine Woche später – gegen Zahlung einer hohen Kaution – auf freien Fuß kam, konnte er seine Arbeit nicht wieder aufnehmen: Die Uniklinik hatte ihn freigestellt. Erst in diesem Februar kehrte er an seinen Arbeitsplatz zurück, da hatte die Staatsanwaltschaft den Haftbefehl schon aufgehoben.

Denn von den schweren Vorwürfen gegen Paul blieb zuletzt nichts übrig: Weder Körperverletzung noch Totschlag ließen sich ihm nachweisen. Die Geldauflage zahlte der Mediziner am Ende wegen „Verstößen gegen Mitteilungs- und Dokumentationsvorschriften“, von denen auch die Staatsanwaltschaft Essen sagt, dass sie „mit einer vergleichsweise geringen Strafandrohung“ bewehrt wären. Ob deswegen noch Anklage erhoben worden wäre, mochte der Arzt wohl nicht mehr abwarten. Vermutlich ging es ihm darum, die belastende Situation zügig zu beenden, nachdem klar war, dass sich die schweren Vorwürfe erledigt hatten.

Ein Prüfbericht löste die Ermittlungen aus

Ausgelöst worden waren die Ermittlungen zunächst auch genau wegen jener Verstöße gegen Mitteilungs- und Dokumentationspflichten, die nun übrig geblieben sind: Die Prüfungs- und Überwachungskommission (Pük), die die Transplantationszentren kontrolliert, hatte der Uniklinik Essen vorgeworfen, die Richtlinien „willentlich und systematisch“ zu verletzen. Die Uniklinik selbst hatte den Prüfbericht der Staatsanwaltschaft zur Kenntnis gegeben, die nach eingehender Prüfung Ermittlungen einleitete. Es wurde also „von Amts wegen“ ermittelt; eine Anzeige gegen das Klinikum oder Prof. Paul hat es nie gegeben. Auch finanzielle Interessen waren ihm – anders als seinem 2010 verurteilten Vorgänger Christoph Broelsch – übrigens nie vorgeworfen worden.

Die Ermittler bewegten sich von Anfang an auf heiklem Terrain, da es um die Bewertung hochkomplexer medizinischer Sachverhalte ging. Sie beauftragten daher, „einen renommierten Sachverständigen mit der Auswertung von beschlagnahmten Krankenakten“. Diese Auswertung habe dann zu dem Tatverdacht geführt, „dass teilweise Transplantationen ohne Indikation durchgeführt worden seien“, teilte die Staatsanwaltschaft Essen im September 2018 mit.

Experten streiten über die Transplantationsmedizin

Der Sachverständige hielt sechs Eingriffe für nicht nötig, weil es „risikoärmere, alternative Behandlungsmöglichkeiten mit guter Prognose“ gegeben hätte. Die juristische Schlussfolgerung: Dass der Transplantationsarzt Patienten „nicht erforderlichen“ Operationen ausgesetzt habe, sei als Körperverletzung zu werten. Da einer der Patienten nach dem Eingriff verstarb, handele es sich in diesem Fall um Totschlag. So kam es zur Verhaftung des Mediziners.

Allerdings hatte nicht nur der Beschuldigte die Vorwürfe von Anfang an zurückgewiesen, auch Kollegen meldeten Zweifel am Vorgehen der Ermittler an. So äußerte sich etwa der emeritierte Prof. Friedrich Wilhelm Eigler (86), der das Essener Transplantationszentrum zu einem der führenden Deutschlands entwickelt hatte. Die Indikation, also die Entscheidung, ob eine Behandlung angezeigt ist, „ist in der Medizin eine schwierige Frage, die sich mit juristischen Kategorien schwer fassen lässt“, betonte er. Ob der beschuldigte Arzt nicht erforderliche Operationen durchgeführt habe, sei offen, mahnte Eigler im September 2018.

Uniklinik hatte Vorwürfe der Prüfer zurückgewiesen

Tatsächlich hatte es schon früher einen Streit zwischen der Uniklinik und der Prüfungs- und Überwachungskommission (Pük) gegeben, die im Auftrag von Bundesärztekammer, Krankenhausgesellschaft und dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen tätig ist. So hatte die Pük kritisiert, dass in Essen auch alkoholkranke Patienten, die noch nicht die vorgeschriebenen sechs Monate abstinent waren, eine Spenderleber erhalten hatten. Die Uniklinik wies dagegen darauf hin, dass der vorgegebene Alkoholverzicht als Diskriminierung von Kranken gewertet werden könne. Auch andere Vorwürfe der Kommission wies das Uniklinikum zurück – offenbar sah man die geltenden Richtlinien kritisch. Der Fall berührt also zentrale Fragen der Transplantationsmedizin, die schon deshalb geklärt werden müssten, um das Vertrauen von Patienten und potenziellen Organspendern nicht zu erschüttern.

Aktuell aber scheint unter Experten umstritten zu sein, wann eine Transplantation als statthaft oder angezeigt bewertet werden kann. Und so wies der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, im September 2018 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ darauf hin, dass das Gutachten, auf das sich die Staatsanwaltschaft stütze, vorsichtig zu bewerten sei. „Nach meinen Informationen handelt es sich beim Gutachter just um einen Verantwortlichen bei der Bundesärztekammer, der genau für diese Richtlinien zuständig ist.“

Klinik freut sich über die Rückkehr des Mediziners

Also beauftragte das Uniklinikum Essen drei andere „international anerkannte Medizingutachter, die zu einem entlastenden Ergebnis“ kamen. Die Staatsanwaltschaft zog daraufhin selbst einen weiteren Experten zu Rate, der die Vorwürfe des ersten Gutachters ebenfalls nicht teilte. Fazit: Es habe sich gezeigt, dass bei der Frage „nach den Behandlungsmöglichkeiten, die im Hinblick auf Risiko und Erfolgsaussichten vorzuziehen sind, um einen kontrovers diskutierten [...] Bereich der Medizin handelt, wobei nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft verschiedene Lösungen möglich sind“. Dass der beschuldigte Arzt sich für eine bestimmte Risiko-Nutzen-Analyse entschieden habe, könne ihm strafrechtlich nicht vorgeworfen werden.

Im Gegenteil, heißt es im Uniklinikum, Prof. Paul stehe für Spitzenmedizin: In Essen gelinge es, auch „grenzwertig geeignete Spenderorgane“ wieder so aufzubereiten, „dass sie nicht verworfen werden müssen, sondern den schwerstkranken Patienten transplantiert werden können“. Erst im Mai 2018 habe die Gruppe um den Direktor der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie dazu einen Artikel in der angesehen Wissenschaftspublikation „Nature“ veröffentlicht. Man sei daher froh, den Mediziner mit der „herausragenden Kompetenz“ wieder an Bord zu haben.

>>> „LEBERPAPST“ MUSSTE INS GEFÄNGNIS

  • Im März 2010 wurde der Transplantationsmediziner Christoph Broelsch vom Landgericht Essen zu einer Haftstrafe von drei Jahren wegen Bestechlichkeit und Steuerhinterziehung verurteilt. Schon drei Jahre zuvor hatte das Uniklinikum Essen den als „Leberpapst“ bekannten Arzt vom Dienst suspendiert: Gegen „Spenden“ von jeweils mehreren tausend Euro hatte Broelsch Patienten eine Vorzugsbehandlung ermöglicht. Broelsch ist im Februar 2019 verstorben.
  • Prof. Andreas Paul, gegen den die Ermittlungen nun eingestellt worden sind, waren übrigens nie finanzielle Interessen unterstellt worden.