Essen. . Heimatforscher Robert Welzel stellte auf einem Stadtteilspaziergang durch Essen-Kray Jugendstil-Schönheiten aus vorletzter Jahrhundertwende vor.

Jugendstilfassaden standen am Sonntag im Fokus eines zweistündigen Stadtteilspaziergangs durch den Krayer Norden. Heimatforscher Robert Welzel stellte rund 60 Teilnehmern an 20 Stationen bauliche Schönheiten aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vor. Sie sind in dieser Dichte in Essen einzigartig.

An der neugotischen Kirche St. Barbara an der Krayer Straße 228 startet der Gratis-Rundgang. Das katholische Gotteshaus wurde 1894/95 nach den Plänen des Düsseldorfer Architekten Josef Kleesattel errichtet. Über dem Portal wehren so genannte Blattmasken das Böse ab. Schon im Mittelalter nutzte man solche Symbole. Im Jugendstil wurden sie wieder lebendig. „Der Jugendstil war in der Essener Architektur von der ersten Stunde an präsent“, erläutert Heimatforscher Welzel (49). Nach der Pariser Weltausstellung im Jahr 1900 wurden neue Gebäude in der Ruhrstadt nur noch nach der auch „Art nouveau“ (frz. „neue Kunst“) genannten Weise gestaltet: Dekorativ geschwungene Linien, flächenhafte Blumenornamente, Tiermotive aus der Antike und anderen Epochen zieren die Fassaden.

Das Gebiet am Krayer Markt zeigt ein fast geschlossenes Ortsbild der Kaiserzeit

Schöne Stuckornamente an einer Fassade eines Hauses am Krayer Markt.
Schöne Stuckornamente an einer Fassade eines Hauses am Krayer Markt. © Kerstin Kokoska

Wer nach oben blickt, erkennt die Details. Von 3300 Jugendstilbauten in Essen stehen 584 in Rüttenscheid, 428 in Frohnhausen und 282 in Kray. „Das Gebiet rund um den Krayer Markt zeigt ein fast geschlossenes Straßen- und Ortsbild der Kaiserzeit mit Bahnhof, Rathaus, Schulen und Gotteshäusern“, so Welzel. Er hat schon einige Stadtteilführungen geleitet, für die Volkshochschule oder den Verein Kunstring Folkwang.

Aus Werden sind Felix Pohl (86) und Ehefrau Birte gekommen. In einem unbekannten Quartier wollen sie den Gründerzeitspuren folgen. Und staunen nicht schlecht, welche Perlen zwischen Krayer Markt, Joachimstraße, Leither Straße, Hubertstraße, Schwelmhöfe, Kamblick- und Blittersdorfweg aufgereiht sind. Heike Kolpatzik wuchs in Kray auf, lebt aber jetzt im Essener Süden. Sie nimmt im Rollstuhl an der Tour teil, lässt sich vom Ehemann schieben. „Heute stehen Gebäude im Vordergrund, die man im Alltag nicht so wahrnimmt. Das gefällt mir!“

Hausherr wohnte meist in der Beletage

Robert Welzel (rechts) mit der Gruppe vor der St. Barbara-Kirche.
Robert Welzel (rechts) mit der Gruppe vor der St. Barbara-Kirche. © Kerstin Kokoska

Der Bergbau prägte lange die Krayer Historie. Zeche Bonifacius nahm 1861 den Betrieb auf und zählte bis zu 2600 Beschäftigte. Ende des 19. Jahrhunderts stieg die Bevölkerungszahl rasant. An der Ecke Joachimstraße weist Welzel auf ein Haus mit Muschelformen an den Fensterumrahmungen hin. Kunstvolle Stuckarbeiten, die heute kaum jemand präzise ausführen kann. Das Erdgeschoss ist abgesetzt, typisch für diese Epoche. Unter dem Stuck verbaute Holzleisten wirken wie Natursteinquader in der Fassade. Im ersten Stock, der Beletage, dem schönen Geschoss, wohnte meist der Hausherr. „In der Gründerzeit mieteten Arbeiter einzelne Zimmer, keine ganzen Wohnungen.“

Architektur-Schütze schlummern am Marktplatz

Der Krayer Anwohner Volker Fritzler steht an einem Hauseingang mit einem Jugendstilelement an der Leither Straße.
Der Krayer Anwohner Volker Fritzler steht an einem Hauseingang mit einem Jugendstilelement an der Leither Straße. © Kerstin Kokoska

Auch am Markt schlummern Architektur-Schätze. Erker, Sonnenblumen und Frauengesichter schmücken die von den Weltkriegen weitgehend verschonten Zeilen. In der Zeit des künstlerischen Aufbruchs habe der Frühling eine geradezu „heilige“ Bedeutung gehabt. Junge Künstler und Kunsthandwerker wagten Neues, spielten mit Materialien und Methoden. Manche Stuckgesichter blicken keck in die Welt hinaus, andere grüßen mit niedergeschlagenen Augen aus der Höhe. „In Frohnhausen sieht man mehr monumentale Frauenmasken!“, vergleicht Welzel die Fundstücke. Über der Hausnummer 35 am Krayer Markt schwebt ein mystisches Mischwesen aus Katze und Raubvogel. Jugendstil ist auch das bärtige Männergesicht. Schaut da Neptun oder der schlafende Barbarossa im Kyffhäuser-Mythos auf das Treiben? Da kann selbst der Experte nur raten.

Wiener Einflüsse an der Joachimstraße

Jugendstil-Ornamente an einer Fassade in der Hubertstraße.
Jugendstil-Ornamente an einer Fassade in der Hubertstraße. © Kerstin Kokoska

Einflüsse aus Wien hat ein beige-gelbes Haus an der Joachimstraße. Hier fehlt die sonst typische, klare Fenstergliederung. Auffallend sind das zurückgesetzte Dach und die große Rauputzfläche, die das alte Gebäude je nach Lichteinfall lebendig schimmern lässt. „Bis 1907 waren alle Häuser einfarbig hell.“ Erst die Münchener Variante brachte Farbe ins Spiel. Und prächtige Erker an die Fassaden.

Ein paar Meter weiter entdeckt die Gruppe Früchte fressende Stuck-Vögel an einer Hauswand. Beim Renovieren des „Bürgerhofs“ wurde an den neuen Buchstaben gespart, früher waren sie in Gold. „Fast alle Gebäude sind Unikate!“, so Welzel. Das weiß auch Volker Fritzler. Ihm gehört eine Wohnung an der Leither Straße 43. „Unsere neuen Fenster mussten alle einzeln angefertigt werden. Das war sehr teuer!“ Ein paar Meter weiter betrachtet eine Spaziergängerin aus Frohnhausen die großen Rauten an einem grünen Haus. „Ab 1910 wurden die Fassaden etwas ordentlicher“. Ein mächtiger Adler wie aus der griechischen Prometheus-Sage beäugt den Rundgang durch die Hubertstraße.

Das Kray-Leither Rathaus hätte eine Extra-Führung verdient

Die Evangelische Alte Kirche Essen-Kray an der Leither Straße.
Die Evangelische Alte Kirche Essen-Kray an der Leither Straße. © Kerstin Kokoska

Eine Extra-Führung hätte das Rathaus verdient, Sitz des Bürgermeisters und der Verwaltung der 1906 gegründeten Bürgermeisterei Kray-Leithe. Das repräsentative Gebäude wurde 1908 fertig. Anekdote am Rande: Im Rat saßen 28 Meistbegüterte und nur acht gewählte Mitglieder … Mit einem Streifzug durch den Blittersdorfweg endet der Ausflug. Jugendstil an beiden Straßenseiten: Hier hat sich Architekt Carl Hausmann verewigt.

ROBERT WELZEL LEITET VHS-KURS „ESSEN WESTER FUNDSTÜCKE“

  • Robert Welzel, Öffentlichkeitsarbeiter für die Volkshochschule, hat ein Buch zum Thema verfasst: „Essener Streifzüge Band 3, Aufbruch zum Jugendstil“ (Klartext Verlag, 12,95 Euro).
  • Er leitet zudem den VHS-Kurs „Essen Wester Fundstücke“. Es sind noch Plätze frei.