Essen.. Im zweiten Weltkrieg fallen auch Bomben auf das Essener Gefängnis. Zahlreiche Gefangene sterben - eine vergessene Opfergruppe des Krieges.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text über die Auswirkungen der Bombenangriffe auf Essen ist erstmals im Jahr 2019 erschienen

Bomben fallen auf das Essener Gefängnis an der Krawehlstraße. Es ist der Abend des 26. März 1944, die Alliierten fliegen einen ihrer Luftangriffe auf die Stadt. Die Bürger bringen sich in Kellern und Bunkern in Sicherheit. Die Gefangenen harren in ihren Zellen aus. Ohne Fluchtmöglichkeit vor der tödlichen Gefahr, die vom Himmel fällt. Eingeschlossen.

Unter den Insassen waren zahlreiche politische Gefangene – etwa Résistance-Mitglieder aus Frankreich und Belgien. „Sie sind eine vergessene Opfergruppe“, sagt Alfons Zimmer, Gefängnisseelsorger in Bochum. Gemeinsam mit dem Essener Historiker Thomas Hammacher und Monika Iffland, Leiterin der Christlichen Arbeiterjugend (CAJ) im Bistum Essen, will er nach jener Bombennacht auf das Schicksal der Gefangenen aufmerksam machen.

Stefano Attardi (CAJ-Mitglied), Monika Iffland, CAJ-Leiterin im Bistum Essen, und Alfons Zimmer, Pastoralreferent in den Justizvollzugsanstalten Bochum, (v.l.) gedenken den Widerstandskämpfern, die in der NS-Zeit im Essener Gefängnis saßen. Auf den Plakaten sind zu sehen:
Stefano Attardi (CAJ-Mitglied), Monika Iffland, CAJ-Leiterin im Bistum Essen, und Alfons Zimmer, Pastoralreferent in den Justizvollzugsanstalten Bochum, (v.l.) gedenken den Widerstandskämpfern, die in der NS-Zeit im Essener Gefängnis saßen. Auf den Plakaten sind zu sehen: © Unbekannt | FUNKE Foto Services

Pastoralreferent Zimmer hat sich auf die Spur der Gefangenen begeben: „Ich musste mir das Material in ganz Europa zusammensuchen.“ Akten seien im Krieg oder systematisch durch das Regime zerstört worden, erklärt Historiker Hammacher. Zimmer fuhr an die Orte, an denen die Häftlinge vor ihrer Verschleppung, beziehungsweise, wenn sie das Martyrium überstanden hatten, nach dem Krieg lebten. Er stieß auf Gedenktafeln, Totenzettel, Memoiren, Angehörige. „Ich möchte diese Erkenntnisse an den Schicksalsort zurückbringen, damit sie dort bekannt werden.“ Über 100 Namen von politischen Gefangenen habe die kleine Gruppe herausgefunden.

Ein belgischer Widerstandskämpfer und ein Hilfswachmeister mit Herz

Unter den Gefangenen, die die Bombardierung des 26. März 1944 überlebten, war Désiré Beeck aus dem belgischen Mechelen. Der damals 19-Jährige war Mitglied einer konservativen königstreuen Widerstandsgruppe, der Nationalen Königlichen Bewegung (NKB), die sich gegen die Besetzung Belgiens durch Hitler-Deutschland wehrte.

Das Leben im Gefängnis


Désiré Beeck beschreibt unter anderem, dass die Gefangenen nicht aus dem Fenster schauen durften. Oft war für die Gefangenen die einzige Chance, an Informationen von der Außenwelt zu gelangen, die Zeitungsstücke, die sie als Toilettenpapier verwenden mussten, wieder zusammenzusetzen.
Beeck überlebt die Gefangenschaft und schreibt ein Buch mit dem Titel „De eindeloze weg naar de vrijheid: 1353 dagen politiek gevangene in Mechelen, Antwerpen, Lübeck, Essen, Esterwegen, Gross Strehlitz, Blechhammer, Dachau, Buchenwald, Bad Gandershaum, Dachau (1941-1945).“

In die Freiheit gelangte Beeck nicht, aber er suchte nach dem Bombardement das Gefängnis nach Essbarem ab. Später erfuhr er: Sieben Mitglieder seiner Widerstandsgruppe starben bei dem Bombenangriff. Beeck wurde einige Tage danach in das Strafgefangenenlager Esterwegen abtransportiert.

Die Nacht-und-Nebel-Gefangenen und das Sondergericht in Essen

Beeck ist einer von tausenden Widerstandskämpfern, die aufgrund des geheimen Nacht-und-Nebel-Erlasses des NS-Regime ab 1941 verschleppt und abgeurteilt wurden. Vor allem aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg und Norwegen wurden die Menschen abtransportiert. Zimmer schätzt, dass rund 2500 Nacht-und-Nebel-Gefangene über Essen in das Straflager Esterwegen gelangt seien. „Das sind keine Einzelschicksale“, sagt der Gefängnisseelsorger: „Die Gefängnisse in Essen und Bochum waren voll mit diesen Nacht-und-Nebel-Gefangenen.“

„Wir vermuten, dass Essen eine relativ zentrale Rolle gespielt hat, weil es hier ein Sondergericht und ein Untersuchungsgefängnis gab“, erklärt Hammacher. Vor das Sondergericht kamen die politischen Gefangenen. Beeck sei beispielsweise zu einem Jahr Haft verurteilt worden. Dennoch sei er nach diesem Jahr nicht freigelassen worden. „Die KZ-Haft galt nicht als Teil des Strafprozesses“, sagt der Historiker.

CAJ-Pfarrer überlebte das Bombardement nicht

Unzählige Gefangene starben an jenem 26. März, so auch der Pfarrer der christlichen Arbeiterjugend von Mons-Mesvin (Belgien), Abbé Paul Lefébvre. Er wartete laut Zimmer in Essen auf seine Verhandlung vor dem Sondergericht. Der Vorwurf: Er solle den Feind unterstützt und alliierte Fallschirmspringer versteckt haben.

Monika Iffland, selbst bei der CAJ aktiv, sagt: „Es stimmt mich sehr traurig, wenn Widerstandkämpfer und zusätzlich noch CAJler in den Wirren des Krieges ihr Leben verloren haben.“ Es sei wichtig, der jüngeren Generation die dunkeln Zeiten in Erinnerung zu rufen, damit Demokratie und individuelle Freiheit nicht als Selbstverständlichkeit empfunden werden.

Das Schicksal des Pfarrers Josef Reuland

Das erste Schicksal, auf das Zimmer aufmerksam wurde, war das des Pfarrers Josef Reuland. Auf den Spuren des Pfarrers aus dem Trierer Land traf Zimmer auf einem Friedhof eine Nichte des Geistlichen, die ihm seine Aufzeichnungen übergab. „Ich war plötzlich mitten in dieser Zeit drin und entdeckte für mich diese Opfergruppe und ihre Schicksale“, erklärt Zimmer.

Opfer kamen auch aus Reihen der SPD


Auch SPD-Mitglieder waren unter den Gefangenen an der Krawehlstraße – so sollen laut Zimmer auch die Gelsenkirchener Sozialdemokraten Alfred und Margarethe Zingler in Essen gewesen sein. Das Ehepaar habe den Bombenangriff am 26. März 1944 überlebt. Alfred Zingler wurde wenige Monate später zum Tode verurteilt und in einem Zuchthaus in Brandenburg enthauptet.

Auch im Dezember wurde das Gefängnis von Bomben getroffen – das Bild oben zeigt die verheerende Zerstörung. „Gleich die ersten Bomben fielen ins Gefängnis, Bombenteppiche und Luftminen“, schildert der Pfarrer. Reuland schreibt in seinen Aufzeichnungen, dass mehr als 250 Gefangene tot unter den Trümmern gelegen hätten. Reuland überlebte, weil er nicht in seiner Zelle war, sondern sich im Gefängnislazarett befand, erklärt Zimmer. „Ich lag unter den Trümmern und war bewusstlos“, schreibt er.

Eine letzte Ruhestätte auf dem Parkfriedhof

Der Grabstein von Emile Duquesnoy auf dem Essener Parkfriedhof.
Der Grabstein von Emile Duquesnoy auf dem Essener Parkfriedhof. © Unbekannt | Pirkko Gohlke

Zahlreiche Gefangene – die Quellen nennen unterschiedliche Angaben zu den Todesopfern – starben bei den Bombardements in den Zellen an der Krawehlstraße, die meisten wohl an einem Lungenriss. Die Druckwellen seien zum Teil so enorm gewesen, dass die schweren Zellentüren herausgerissen wurden.

Der Pastoralreferent entdeckte auch eine Gruppe französischer Kommunisten aus Arras, von der neun Mitglieder am 26. März im Essener Gefängnis ums Leben kamen. Unter ihnen waren Emile Duquesnoy und Edmond Robaert. Zimmer fand ihre Gräber auf dem Parkfriedhof, Waldfeld 6.

Zimmer und seine Mitstreiter wollen sich weiter mit dem Schicksal der politischen Gefangenen befassen. Der 62-Jährige sagt: „Ich fühle mich verpflichtet, ihre Geschichten zu erzählen.“