Essen. . Unter großen Sicherheitsvorkehrungen startet der Prozess gegen 13 Angeklagte. Sie sollen geplant und versucht haben, einen 19-Jährigen zu töten.

Eine neue Herausforderung für das Landgericht Essen. Am Dienstag beginnt vor dem Schwurgericht der Prozess um einen versuchten „Ehrenmord“. 13 Angeklagten syrischer Herkunft, vertreten von 28 Verteidigern, wirft die Staatsanwaltschaft vor, dass sie einen 19-jährigen Landsmann aus Essen töten wollten oder dazu Beihilfe leisteten. Seine angebliche Schuld: Er hatte mit einer 18-jährigen Schülerin aus ihrer Familie ein „ehebrecherisches“ Verhältnis.

Ungewöhnlich: In seltener Klarheit rückt laut Anklage die Rolle älterer Frauen eines Clans als eigentliche Hetzer der Familienfehde in den Vordergrund. Sie hielten sich zwar nicht selbst am eigentlichen Tatort auf, gelten der Anklage von Staatsanwältin Birgit Jürgens aber als Mittäterinnen eines gemeinschaftlichen Mordes.

Beide, Muzgin M. (39) aus Viersen und ihre Schwester Gulistan A. (47) aus Naumburg an der Saale, sitzen wie acht andere Angeklagte seit sechs Monaten in U-Haft. Sie sind Mutter beziehungsweise Tante der 18-jährigen Schülerin. Zeugen und Mitangeklagte schildern sie als „die dicken runden Frauen“, die den Konflikt geschürt und den Tod des jungen Mannes gefordert hätten.

147 Seiten starke Anklageschrift

Es erinnert an ein Stück aus dem Mittelalter, was Staatsanwältin Jürgens auf 147 Seiten Anklage aufgelistet hat. Um 2013 lebt der Großteil der Familien noch in Syrien. Nach und nach kommen sie nach Deutschland. Ein Teil lebt in Viersen am Niederrhein, ein Teil in Sachsen-Anhalt an der Saale und Unstrut. Noch im Nahen Osten heiratet der damals 25 Jahre alte Dlovan B. offenbar nach islamischem Recht die gerade 16-jährige Sina M.. Ihre Mutter, Muzgin M. aus Viersen, soll seine Cousine sein. Laut Heiratsvertrag vor einem irakischen Gericht, so ergaben die Ermittlungen der Polizei, muss er dafür 2500 Dollar und 21 Karat Gold bezahlen.

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In Deutschland soll das junge Ehepaar sich auseinander gelebt haben. Dlovan B. und seine Frau Sina M. hatten eine Wohnung im Essener Stadtteil Altenessen bezogen. Irgendwann lernt seine Frau das spätere Opfer, den 19-jährigen Essener, kennen und wohl auch lieben. Es heißt, die Familien tolerierten das. Auch Dlovan B. soll längst eine andere Freundin haben.

Doch im Frühsommer vergangenen Jahres tauchen plötzlich in den sozialen Medien Fotos der beiden „Ehebrecher“ auf. Jetzt erst sollen vor allem die älteren Frauen des Clans Aktionen gefordert haben, um „die Ehre der Familie“ wieder herzustellen. Der Tod des 19-Jährigen soll beschlossene Sache gewesen sein, einige fordern wohl auch den der 18-Jährigen.

Erinnerung an syrische Bräuche

Von einem angeblichen Schlichter, ebenfalls angeklagt, heißt es, er habe an syrische Bräuche erinnert. Danach müssten beide sterben, der Leichnam der Frau müsse aber auch noch zerschnitten werden. Sven-Henning Neuhaus, Verteidiger des Esseners Kerkhaz A. (38), bestreitet diese Worte: „Das hat er so nicht gesagt.“

In der Nacht zum 31. Mai 2018 soll sich ein Großteil der Angeklagten auf den Weg zur Steeler Straße in Essen gemacht haben. Laut Anklage sind sie auf der Suche nach dem 19-Jährigen. Kurz nach Mitternacht entdecken sie ihn, schlagen zu. Er rettet sich zwar noch auf den abgelegenen Hinterhof eines Getränkemarktes, aber dort gibt es keinen Fluchtweg. Fünf der Angeklagten sollen ihn geschlagen und getreten haben mit Knüppeln und Holzlatten, einer hat ein Messer.

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Von Pirkko Gohlke, Hans-Karl Reintjens, Marc Wolko

Drei weitere filmen das Geschehen, schlagen und treten auch selbst, heißt es. Es sind grausige Szenen, die die Videos zeigen. Sie sind Beweismittel. Der blutüberströmte 19-Jährige wimmert um sein Leben, doch immer wieder wird er angegriffen. Erbarmen scheint es nicht zu geben. „Schneid ihm das Ohr ab“, ruft einer. Doch dieser Akt wird nicht ausgeführt. Permanent ist dabei das rhythmische Schlagen mit den Latten zu hören.

Nachbarin beendet Gewaltorgie

Eine beherzte Nachbarin beendet die Blut- und Gewaltorgie. Vom Balkon ruft sie herunter, die Polizei komme jetzt. Die Angreifer flüchten, das Opfer rettet sich auf die Straße. Später teilen Polizei und Staatsanwaltschaft mit, das Opfer sei teilskalpiert worden. Fraglich ist, ob das aktiv durch die Angeklagten geschehen ist oder als er an die raue Betonwand gedrückt und herunter geschoben wurde. Körperlich geht es ihm mittlerweile wieder gut.

Einige der Angeklagten haben im Ermittlungsverfahren ausgesagt und das äußere Geschehen bestätigt. Einer von ihnen soll sich im Zeugenschutzprogramm befinden. Im Prozess wird es vor allem um die Rolle der nicht aktiv an der Tat beteiligten beiden Frauen gehen, aber auch um den Willen zum Mord. Verteidiger Andreas Renschler, der den „Ehemann“ Dlovan B. vertritt, will sich konkret zu seinem Mandanten nicht äußern, weil dieser bislang geschwiegen hat. Für ihn sei aber klar: „Es gab keinen Tötungsvorsatz.“

Angebotene Zahlungen von der Gegenseite abgelehnt

Der Essener Rechtsanwalt Aykan Akyildiz vertritt das Opfer. Er betont, dass die Familie seines Mandanten nicht an Vergeltungsaktionen gedacht habe: „Mein Mandant will die Wahrheit erfahren. Seine Familie und er vertrauen dem deutschen Rechtsstaat und glauben an ein gerechtes Urteil.“ So seien auch von der anderen Seite angebotene Zahlungen abgelehnt, nicht einmal diskutiert worden.

Viel Spielraum beinhaltet das Verfahren. Ein Beispiel: Auf dem Video sind einige Angeklagten zu hören, wie sie „Hört auf!“ oder „Mach Schluss!“ rufen. Möglich, dass es die Aufforderung ist, die Schläge zu beenden und den 19-Jährigen nun zu töten. Für viele Verteidiger ist es dagegen das Zeichen, die Strafaktion zu beenden. Was nun wirklich die Wahrheit ist, soll das Schwurgericht an geplant 27 Verhandlungstagen bis Mitte Juli herausfinden.