Essen. Eine syrische Familie wollte einen 19-Jährigen wegen Ehebruchs umbringen. Die Täter filmten den Angriff, den das Opfer schwer verletzt überlebte.
Nach einem versuchten "Ehrenmord" an einem 19 Jahre alten Syrer in Essen sitzen zwölf Beschuldigte in Untersuchungshaft. Die Tatverdächtigen sind allesamt Mitglieder einer syrischen Großfamilie. Laut Polizei und Staatsanwaltschaft sollen sie gemeinsam beschlossen haben, den 19-Jährigen umzubringen. Der Grund: Eine junge Syrerin (19), Mitglied der Familie, soll mit dem Opfer Ehebruch begangen haben. Ein Teil der Familie fing den jungen Mann nachts ab, fügte ihm lebensgefährliche Stichverletzungen zu. Ein Messer und mehrere Holzlatten sollen im Spiel gewesen sein. Die Täter skalpierten ihn fast – und filmten die Tat. Die Ermittler erhielten mit dem Fall Einblicke in eine Parallelgesellschaft.
Großfamilie kam aus Syrien nach Deutschland
Drei Verdächtige hatte die Polizei in den letzten Wochen gefasst, sechs weitere bei der Razzia am Mittwoch. Drei Beschuldigte hätten sich nach der Großaktion am Mittwoch freiwillig gestellt, berichtet Oberstaatsanwältin Brigit Jürgens bei einer Pressekonferenz am Mittwochvormittag. Einer der Verdächtigen soll auch der Ehemann der jungen Frau sein. Dass der 28-Jährige selbst eine außereheliche Beziehung zu einer anderen Frau hatte, interessiert in der Familie offenbar niemanden.
Die Verdächtigen seien zwischen 22 und 46 Jahre alt, darunter sind zwei Frauen. Ein Großteil wohne in Essen, einige in Viersen und Sachsen-Anhalt. Einige Familienmitglieder sind seit 2012 in Deutschland, der größte Teil sei während der Flüchtlingswelle nach Deutschland gekommen, berichten die Ermittler.
Oberstaatsanwältin spricht von "ganz schrecklichen Bildern"
Bei dem Angriff am 31. Mai sei der 19-Jährige massiv verletzt und fast skalpiert worden, berichten die Ermittler. Die Polizei war damals zu einer Schlägerei zwischen mehreren Männern auf den Hinterhof eines Getränkemarktes an der Steeler Straße gerufen worden. In jener Nacht fanden die Beamten den 19-Jährigen. Er lag blutüberströmt an einer Mauer. Die Täter hielten ihn für tot und ließen deshalb wohl von ihm ab. Der junge Mann erlitt lebensgefährliche Stichverletzungen, unter anderem in die Lunge und andere innere Organe, dazu schwerste Gesichtsverletzungen. Durch eine Notoperation konnten Ärzte sein Leben retten. Er wird allerdings für immer gezeichnet sein.
Die Familienmitglieder hätten sogar Teile der Tat gefilmt. Oberstaatsanwältin Birgit Jürgens spricht von "ganz schrecklichen Bildern", die die Ermittler zu sehen bekamen.
Ermittler fanden einen Kaufvertrag für die junge Frau
Den ersten Tatverdächtigen stellte die Polizei direkt nach dem blutigen Angriff: Er versteckte sich in der Nähe in einem Rosenstrauch. Da das Opfer noch im Krankenhaus den möglichen Hintergrund erklärte und warnte, dass die junge Frau ihn Gefahr sei, kamen die Beamten der Familie schnell auf die Spur. So fanden die Polizisten unter anderem einen Kaufvertrag über tausend Dollar und Gold, mit dem die junge Frau offenbar vor zwei Jahren zwangsverheiratet wurde.
Gegenüber der Polizei habe sich die heute 19-Jährige sehr zwiespältig geäußert, heißt es bei der Pressekonferenz. "Sie hat erklärt, dass es nicht so schlimm sei, was dem Opfer passiert", berichtet Tanja Hagelüken, die Leiterin der 16-köpfigen Mordkommission, von den Ermittlungen in dem Fall: "Sie hat sich offenbar in die Familienstruktur wieder eingefügt." Dass die Frau noch lebt, läge nur daran, dass die Familie beschlossen habe, sie nicht zu töten, so die Oberstaatsanwältin Birgit Jürgens.
Vor der Tat machten offenbar Bilder des jungen Paares in sozialen Netzwerken die Runde. Die Aufnahmen zeigten die beiden, wie sie sich eng umschlungen im Arm hielten. Die Bilder seien offenbar den Familienmitgliedern zugespielt wurden. "Das hat die Familie als Ehrkränkung empfunden", so Tanja Hagelüken. Dabei habe der Ehemann der jungen Syrerin zu diesem Zeitpunkt längst eine andere Frau gehabt, ergänzt die ermittelnde Staatsanwältin: "Es ging nur um die Ehre der Familie."
Polizeipräsident hofft auf Signalwirkung des Falls
Essens Polizeipräsident Frank Richter nennt das Mord-Komplott eine "verabscheuungswürdige Tat" aus niedrigsten Beweggründen, die mit Ehre nichts zu tun habe. "Wir erleben auch in Essen, dass Clans versuchen ihre Parallelstrukturen aufzubauen. In dem Fall konnten wir vieles über die Strukturen der Clans aufhellen."
"Wir dürfen es uns es als Gesellschaft nicht erlauben, diese Parallelstrukturen zu akzeptieren. Und wir werden es nicht ansatzweise hinnehmen, dass solche Strukturen entstehen", unterstreicht der Polizeipräsident auf der Pressekonferenz. Richter erhofft sich eine klare Signalwirkung an andere Großfamilien: "Wer hier lebt, muss sich an unsere Gesetze halten."
Auch interessant
Anhaltspunkte, dass die Familie des Opfers sich rächen wird, hat die Polizei derzeit nicht. "Wir können es aber nicht ausschließen", so Oberstaatsanwältin Jürgens. Den 19-Jährigen lobt die Leiterin der Mordkommission, da er sich auf die Ermittlungen der Polizei verlassen und nicht seine Familie eingeschaltet habe.
Bei der Razzia am Mittwoch vollstreckte die Polizei eine ganze Reihe von Haftbefehlen. Vier Personen wurden in Essen festgenommen – in den Stadtteilen Horst, Freisenbruch und Altenessen. Aber SEK, Einsatzhundertschaft und Kripo waren auch in Viersen und in Sachsen-Anhalt im Einsatz. Die Ermittler bewerten die Tat als versuchten Mord, so Jürgens: "Ich gehe aber auch von niedrigen Beweggründen aus."
Großeinsatz der Polizei Essen nach Mord-Komplott