Essen. . Joachim Skrzypczak war einst Bergmann auf Zollverein. Nebenbei kümmerte er sich um seine Brieftauben. Heute unterstützen ihn sogar seine Söhne.

Die Brieftaube gehört zum Ruhrgebiet wie die Bergehalde, der Förderturm und die Bude an der Ecke. „Rennpferd des kleinen Mannes“, wird sie halb respektvoll, halb ironisch genannt. Ein Mythos, der in Joachim Skrzypczaks riesigem Garten in Stoppenberg geradezu kultiviert wird. „Meine Familie steht an erster Stelle, danach kommen die Tauben“, betont der 66-Jährige, und schaut herüber zu seinem großen Taubenschlag.

Essen ist schon seit mehr als 30 Jahren keine Bergbaustadt mehr, trotzdem sind die Kohle und die Zechen in der Straße Im Natt immer noch präsent. „Ich wohne in dem alten Steigerhaus, in dem früher der Tagesbetriebsführer von Zollverein 6/9 gelebt hat“, erzählt Skrzypczak.

Der ehemalige Bergmann Joachim Skrzyrcak steht in seinem Garten in Essen und hält eine seiner Lieblingstauben am 29.05.2018 in der Hand. Foto zur Aktion von WAZ und Radio Essen
Der ehemalige Bergmann Joachim Skrzyrcak steht in seinem Garten in Essen und hält eine seiner Lieblingstauben am 29.05.2018 in der Hand. Foto zur Aktion von WAZ und Radio Essen "Mehr als Kohle" . Foto: André Hirtz / Funke Foto Services © André Hirtz

Auf der anderen Straßenseite habe er früher, als auf Zollverein noch Kohle gefördert wurde, auf die hohe Zechenmauer geschaut, den Landabsatz und das Fördergerüst. Und die Deputatkohle für Tausende Zollverein-Kumpel lagerte hier. Beim Wort Deputat verfällt er automatisch in den Kumpeljargon. „Deputat – da konnte man richtig pannen“ – das Ruhri-Wort für schaufeln oder einschüppen.

Ein Kumpel-Idyll aus dem Bilderbuch

Die Tauben und das Steigerhaus, Zollverein und die Stoppenberger Zechenkolonie: Das wirkt im ersten Moment wie ein Kumpel-Idyll aus dem Bilderbuch. Dabei wollte der junge Skrzypczak in den Mitte der Sechziger Jahren alles werden, bloß nicht Bergmann. „Die Welt stand uns damals offen, außerdem fing das Zechensterben im Ruhrgebiet gerade an.“

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Als die Zechen wie Pilze aus dem Boden schossen, war auch sein Großvater Johannes dem Lockruf des Schwarzen Goldes gefolgt und vom fernen Polen ins boomende Ruhrgebiet gezogen. Sein Vater Hans wurde – selbstverständlich – ebenfalls Bergmann. „Aber in unserer Abschlussklasse wollte schon kein einziger mehr auf die Zeche.“ Skrzypczak erlernt den Beruf des Schaufenstergestalters, heiratet, ein Kind kommt – und kurz drauf die ernüchternde Erkenntnis, dass am Ende des Geldes noch so viel Monat übrig ist.

„Die Hitze, der Staub, das kann man sich nicht vorstellen“

Also doch zum Pütt. Aber nicht Zeche Holland wie Vater und Opa, sondern Zollverein 3/10 in Schonnebeck. „Ich war Bergmann unter Tage, Ortshauer.“ 1986 erlebt er die Stilllegung von Zollverein, einen Kohlebrocken vom letzten Förderwagen besitzt er immer noch. Danach kümmert er sich bei der DSK (Deutsche Steinkohle) um den Arbeitsschutz. Letzte Schicht: 4. August 2001.

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Nach 27 Jahren Bergbau ist Skrzypczak keiner, der die Maloche unter Tage glorifiziert. „Die Hitze, der Staub, das kann man sich nicht vorstellen“, sagt er, und fügt hinzu: „Gewisse Arbeitsplätze waren menschenunwürdig.“

1300 Euro für eine Taube

Unten der finstere Streb, über Tage der blaue Himmel über der Ruhr: Seine Liebe zum Brieftaubensport hatte schon im Knabenalter begonnen. „Mein Vater war Taubenzüchter und ich hatte meine erste mit fünf.“

Sein Taubenschlag im Natt zählt jetzt gut hundert gefiederte Bewohner. Ein Hobby, das viel Zeit und Hingabe erfordere. „Wenn andere spazierengehen, muss ich auf meine Tauben aufpassen.“ Auch in den Ferien bleibt er zuhause.

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Eine kleine Entschädigung sind die Pokale und Urkunden, die er für seinen Verein Eilbote Stoppenberg bei den Wettflügen der Reisevereinigung Gelsenkirchen 1894 einheimst. „Einmal bin ich sogar RV-Vizemeister geworden.“ Kenner des Taubensports wissen, dass manche Züchter besonders rassige „Rennpferde“ im Schlag haben, die so viel wert sind wie ein nagelneuer VW Golf. Skrzypczak: „Für meine teuerste Taube ich mal 1300 Euro gekriegt.“

Ein aussterbendes Hobby

Als der Bergbau im Ruhrgebiet in voller Blüte stand, war die Brieftaube ein Massenphänomen. „Früher hatte jeder in der Kolonie Tauben – Dachfenster an Dachfenster.“ Erst als das Zechensterben einsetzt, lässt das Interesse allmählich nach. Skrzypczaks Prognose fällt düster aus und ist wohl realistisch: „Der Taubensport ist ein aussterbendes Hobby.“

Drei Generationen Taubenzüchter sind heute eine absolute Seltenheit: Opa Joachim Skrzypczak (re.), Sohn Patrick Graw (li.), und Enkel Leon Graw.
Drei Generationen Taubenzüchter sind heute eine absolute Seltenheit: Opa Joachim Skrzypczak (re.), Sohn Patrick Graw (li.), und Enkel Leon Graw. © Knut Vahlensieck

Kurioserweise gehen die Uhren bei den Skrzypzcaks in dieser Beziehung völlig anders. Enkel Leon, Schüler am Stoppenberger Gymnasium und erst 15, hat sich bereits einen eigenen Taubenschlag zugelegt. Und Sohn Patrick ist vor kurzem – quasi auf dem zweiten Bildungsweg – zum Taubenzüchter nachgeschult worden.

Ein Personalausweis für Tauben

„Durch Tauben zum Wohlstand“ ist in die Holztür zum Taubenschlag graviert, drinnen tummeln sich Blauschecken und Schimmel,Rote und Weiße. Neben der Voliere für die Jungtauben gibt’s eigene Abteile für Reisetauben, Zuchttauben und Weibchen. Die Zeit der analogen Uhren ist im iPhone-Zeitalter auch hier längst vorbei. Jede Taube trägt am Fuß einen roten Ring mit Chip und Kennung. „Das funktioniert wie der Scan an der Supermarkt-Kasse, jede Taube hat quasi einen Personalausweis.“

Einige Tage zuvor ist der letzte Preisflug über 430 Kilometer zu Ende gegangen. Joachim Skrzypczak schaut mit prüfendem Blick in den blauen Himmel über Stoppenberg und sagt: „Nur zwei Tauben fehlen noch, hoffentlich haben sie unterwegs keinen Raubvogel getroffen.“

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