Essen. Die Essener Tafel stand wochenlang im Rampenlicht. Inzwischen sind die Kamerateams wieder abgezogen. Unser Redakteur hat die Helfer eine Schicht lang bei ihrer Arbeit begleitet.

Die Ansage war deutlich: „Sie können gerne vorbeikommen und mit anpacken. Aber ohne Stift und Block. Und ohne Kamera. Schaulaufen machen wir hier nicht“, hatte Jörg Sartor in seiner gewohnt knorrigen Art gesagt. Da stehe ich also an der Lebensmittelausgabe im Steeler Wasserturm in meiner roten Fleecejacke mit der Aufschrift „Essener Tafel“. So wie Gudrun, Elfi, Claudia und all die anderen ehrenamtlichen Helfer – und fühle mich trotzdem wie ein Voyeur.

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Weil Jörg Sartor und sein Vorstand beschlossen haben, vorübergehend keine Ausländer mehr als neue Kunden aufzunehmen, kennt die Essener Tafel nun jeder, der Zeitung liest oder die Nachrichten verfolgt. Von jungen Migranten, die andere Kunden wegschubsen, war die Rede und von deutschen Omas, die sich nicht mehr wohlfühlen. „Ich wünschte, das wäre alles wieder vorbei“, sagt Gudrun und packt sich die nächste Gemüsekiste. Der ganze Medienrummel ist ihr nicht recht. Dass plötzlich laut über Armut gesprochen wird aber schon.

Erstaunlich, was die Geschäfte alles wegwerfen

Gemeinsam sortieren wir die gespendeten Lebensmittel, Kiste um Kiste. „Schmeiß weg, was Du selbst nicht mehr essen würdest“, sagt Gudrun. Matschige Tomaten und Paprika landen im Abfall unter der Theke. Oben wachsen die Gemüsehaufen. Erstaunlich, was die Geschäfte alles wegwerfen. Sind die Pilze noch gut? Sieht so aus. Ich lege sie oben drauf.

Als die Essener Tafel 1995 gegründet wurde, fuhren die Helfer Geschäfte noch mit dem Pkw ab; Spenden kamen in den Kofferraum. Heute ist eine kleine Flotte an Lieferwagen unterwegs. Fünf bis sechs Tonnen pro Tag sammeln sie ein. Auf einigen Fahrzeugen steht nun „Nazis“, hastig von Unbekannten mit Farbe aufgesprüht. Gudrun und die anderen können darüber nur den Kopf schütteln. Es sind allesamt patente Frauen, die mitten im Leben stehen. Die etwas Sinnvolles tun wollen, weil die Kinder aus dem Haus sind, oder weil sie einfach Zeit übrig haben, um anderen Menschen zu helfen.

Während wir die letzten Gemüsekisten auspacken, stehen die Menschen vor dem Eingang bereits Schlange. Etwa 170 Bedürftige werden es diesmal sein. Menschen, die Hartz IV beziehen, die in Deutschland Asyl gefunden haben oder deren Rente zu klein ist, um davon auskömmlich leben zu können.

Viele alleinstehende Frauen sind unter den Tafel-Kunden

Geschubse, ja das hat es schon mal gegeben, höre ich. Draußen, nicht hier drinnen. Und das auch eher bei der Registrierung als bei der Lebensmittelausgabe. Als die Wartenden hinein dürfen, schubst niemand. Langsam gehen sie an der Ausgabe vorbei, zeigen die Bezugskarten vor, auf denen vermerkt ist, wie viele Personen zum Haushalt gehören.

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Mir fällt auf, dass viele alleinstehende Frauen darunter sind. Junge, alleinstehende ausländische Männer sind diesmal nicht gekommen. Das mag Zufall sein, aber ihr Anteil unter den Kunden sei gesunken, seit der Aufnahmestopp gilt. Denn wer unter 30 ist, bekommt die Lebensmittelkarte nur für drei Monate, nicht für ein Jahr wie alle anderen. Wer alleine lebt, darf sich an der Gemüseausgabe drei Teile aussuchen. Paare und Familien bekommen mehr.

Anfassen ist nicht erlaubt, aus hygienischen Gründen. Viele, die heute da sind, haben einen Einkaufs-Trolley dabei. „Was macht der Deutschkurs“, fragt Gudrun eine junge Frau aus dem Iran. „Läuft“ antwortet sie und lächelt. Der Ton ist freundlich.

„Einmal noch, und ich nehme Ihnen die Karte ab“

Nur einmal wird es laut, als eine Frau sich selbst bedient. „Das macht die immer“, ruft jemand, der weiter hinten in der Schlange steht. „Einmal noch, und ich nehme Ihnen die Karte ab“, bekommt sie von einer der Helferinnen zu hören. Die Frau trägt Kopftuch, ist keine Deutsche. Versteht sie, was gesagt wird? Der Ton an der Tafel kann also auch rau sein.

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An der Theke gegenüber gibt Claudia Schinken, Wurst und Fleisch aus, eingeschweißt in Plastik. Familien bekommen eine XXL-Packung. Es soll ja bis zur nächsten Woche reichen. Auch hier gibt es keine Selbstbedienung. „Kein Schwein?“, fragt eine junge Muslima. Nein, es ist vegetarische Pastete. Karton um Karton gibt Claudia aus, manchmal sind es vier auf einmal.

Auch die ältere Frau, die als nächste an der Reihe ist trägt Kopftuch. Sie ist nicht die einzige, die kaum oder gar kein Deutsch spricht. Ein kleines Mädchen, wohl ihre Enkeltochter, übersetzt. „Das ist lecker“, sagt sie, als Claudia ihr ein abgepacktes Hähnchen reicht.

Ich schaue in abgestumpfte Gesichter, in Augen, die nicht mehr strahlen

So geht es weiter. Irgendwann verschwimmen die Gesichter derjenigen, die vorübergehen. Einige lächeln. Ein Mann hebt den Daumen. Eine ältere Frau schaut fast demütig zu mir auf. Andere sagen nichts. Auch ich habe Geschichten gehört von Tafel-Kunden, die gar nicht bedürftig seien, die mit dem Auto vorfahren oder Lebensmittel an der nächsten Ecke weiterverkaufen.

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Auch ich kann den Menschen nur vor den Kopf schauen. Aber den meisten, die mir an diesem Tag gegenüber stehen, ist anzusehen, dass sie nicht auf der Sonnenseite leben. Ich schaue in abgestumpfte Gesichter, in Augen, die nicht mehr strahlen. Hartz IV sei nicht mit Armut gleichzusetzen, sondern diene der Bekämpfung von Armut, hat der neue Gesundheitsminister Jens Spahn dieser Tage gesagt. Vielleicht sollte er sich einmal hier im Wasserturm hinter die Theke stellen. Ohne Kamera, ohne Schaulaufen.

„Und, sehen wir uns nächste Woche wieder“, fragt mich Claudia mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen, als unsere Schicht nach gut drei Stunden zu Ende ist. Mein schlechtes Gewissen meldet sich. Claudia, Gudrun und die anderen werden da sein.