Essen. . Das „Deutsche Haus“ auf der Kastanienallee schließt. Die Wirtsleute Witthaut hören aus Altersgründen auf. Erinnerungen an goldene Zeiten.

Ein wohliger Geruch durchströmt an diesem November-Abend, dem ersten Tag des Essener Weihnachtsmarktes, den großen Schankraum. Es duftet nach gebratenen Gänsekeulen, würzigem Apfelrotkohl und Kartoffelknödeln. Hausmannskost vom Feinsten. Aus dem Zapfhahn fließt frischgezapftes Stauder in die Tulpen. Das „Deutsche Haus“ auf der Kastanienallee, eine der letzten Traditionsgaststätten in der Innenstadt, heute Abend gut besucht mit einem hohen Anteil von Stammgästen, verbreitet Nestwärme und Gemütlichkeit. Lucian Gilka, einer der Treuesten und den Treuen, sagt: „Wir sind hier wie eine große Familie.“

Er sagt diesen Satz mit Wehmut im Herzen und einer kleinen Träne im Auge. Denn die Tage des Deutschen Hauses sind gezählt, am 31. Dezember ist Schluss: nach 99 Jahren das Ende einer großartigen Kneipen-Ära. Die Wirtsleute Alfred und Christa Witthaut, genannt „Kika“, geben das Restaurant, zu dem auch das Hotel mit 28 Betten gehört, aus Altersgründen aus. Alfred ist 84, Kika 78.

Erstes „Deutsches Haus“ stand 1918 an der Rottstraße

Das erste „Deutsche Haus“ stand 1918 auf der Rottstraße: mit viel Schiefer und Fachwerk.  Im Hintergrund die Kreuzeskirche.
Das erste „Deutsche Haus“ stand 1918 auf der Rottstraße: mit viel Schiefer und Fachwerk. Im Hintergrund die Kreuzeskirche. © Socrates Tassos

„Gasthof zum Deutschen Haus“: Das klingt wie aus einer anderen Zeit. Aber 1918, im letzten Jahr des Weltkriegs, im Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, sind Kneipennamen, die eine patriotische, preußische, ja monarchistische Gesinnung kundtun, absolut angesagt. Gasthäuser in jener Zeit heißen gerne Deutsches Eck, Café Vaterland und Kaiserhof.

Christa Witthaut ist Enkelin der Wirtsleute Wittsiepe, die das Deutsche Haus 1918 auf der Rottstraße gründeten. Dort, wo heute die Allbau-Zentrale steht. Alte Bilder zeigen das schmucke Gründerhaus, das typisch ist für die bergische Architektur der untergegangenen Essener Altstadt: mit viel Schiefer, Fachwerk und Walmdach.

1945 ausgebombt und neu aufgebaut

Als der alliierte Bombenhagel das Haus im März 1945 in Schutt und Asche legt, bauen Albert und Franziska („Cissy“) Wittsiepe es mit eigenen Händen wieder auf. Sie, die Trümmerfrau, pickelt Stein für Stein sauber ab, er, zurück aus der Gefangenschaft, besorgt an den gesprengten Ruhrbrücken in Steele Eisenträger. „Mein Schwiegervater war Gewichtheber, um ein Haar Deutscher Meister, ein Baum von einem Mann, der Streithähne und Zechpreller eigenhändig hinauswarf“, erzählt Alfred Witthaut.

Seit 1958 gibt es das Deutsche Haus auf der Kastanienallee. In den sechziger Jahren erlebte es seine Goldenen Jahre.
Seit 1958 gibt es das Deutsche Haus auf der Kastanienallee. In den sechziger Jahren erlebte es seine Goldenen Jahre. © Socrates Tassos

1958 wird die Rottstraße verbreitert und die Wittsiepes müssen umziehen: in die Kastanienallee. „Die frühen sechziger Jahre war unsere Goldenen Jahre“, schwärmt Witthaut. Das Quartier zwischen Viehofer Platz und Kreuzeskirche ist in den Wirtschaftswunderjahren mit seinen Tanzschuppen, Zockerlokalen und Animierbetrieben ein pulsierendes Vergnügungsviertel – mit einem schillernden Ruf weiter über Essen hinaus. Die Nächte sind lang im Löwenbräu und Zillertal, im Wappen von Hamburg und in der schummrigen Spiegelbar. „An Wochenenden war bei uns abends kein Tisch mehr frei“, erinnert sich Witthaut. Die durstigen Zecher stehen damals in Dreier- und Viererreihen an der Theke und prosten sich zu.

Saftiger Sauerbraten und jede Woche Saure Nierchen

Christa Witthaut, genannt „Kika“. Das Bild zeigt die Inhaberin als junge Köchin.
Christa Witthaut, genannt „Kika“. Das Bild zeigt die Inhaberin als junge Köchin. © Socrates Tassos

Geändert hat sich die Einrichtung in den letzten Jahrzehnten kaum. Massive Tische, Lampen mit Kupferschirmen, das Klavier, Eichenvertäfelung und auf dem Boden die Solnhofener Platten verbreiten den gediegenen Charme der sechziger und siebziger Jahre. Klassiker der gutbürgerlichen Küche wie saftige Sauerbraten und soßige Rouladen sind seit jeher der Renner. Kein Wunder, denn Kika, die Chefin, steht trotz ihres hohen Alters immer noch in der Küche. „Hier gibt’s jede Woche einmal Saure Nierchen, wo haben wir das sonst noch“, sagt Stammgast Lucian Gilka. Und Erika, die Kaltmamsell, steht schon seit 40 Jahren, seit ihrer Lehre, in Diensten des Deutschen Hauses. Den Kochlöffel und die Schürze legt Kika Witthaut nun ungern zur Seite. Sie dankt insbesondere den Stammgästen, ihrer großen Familie, für die lange Treue. „Wir hätten die 100 gerne vollgemacht“, sagt sie, „aber das Alter macht auch vor uns nicht halt.“

Fußball-Legende Jürgen „Kobra“ Wegmann ist seit elf Jahren Stammgast im Deutschen Haus.
Fußball-Legende Jürgen „Kobra“ Wegmann ist seit elf Jahren Stammgast im Deutschen Haus. © Socrates Tassos

Albert Witthaut blättert in Fotoalben und erinnert sich an prominente Gäste, überwiegend Fußballhelden wie Max Merkel, Willi „Ente“ Lippens, Penny Islacker und seit elf Jahren Jürgen „Kobra“ Wegmann. „Fritz Walter war auch mal hier, weil Helmut Rahn oft bei uns verkehrte.“ Als der Chef wissen wollte, was in der Spiegelbar los sei, soll der Boss geantwortet haben: „Friedrich, das ist ’ne Kitzelbar.“

>>>JUNGE GASTRONOMIN FOLGT

Inhaberin Christa „Kika“ Witthaut war beim Interview im „Deutschen Haus“ verhindert.

Eine junge Gastronomin aus dem Kreativquartier Nord-City will das Gasthaus übernehmen: mit einem anderen Konzept und unter neuem Namen.

An diesem Samstag erfolgt zum letzten Mal die Auszahlung des Sparklubs.