Essen. . Nach massivem Druck ist die Trinkerszene vom Willy-Brandt-Platz zur Südseite des Essener Hauptbahnhofs umgezogen. Dort gibt es neuen Ärger.

  • Trinkerszene hat Treffpunkt Willy-Brandt-Platz nach massivem, lang anhaltendem Druck durch Ordnungskräfte aufgegeben
  • Neuderings ist die überdachte Südseite des Essener Hauptbahnhofs der neue Treffpunkt, direkt vorm Evag-Kundencenter
  • Auch die Evag will die Szene loswerden, es gibt Klagen über Vermüllung und einen ekelhaften Vorfall

Nach langem zähen Ringen mit den Ordnungskräften von Stadt und Polizei hat die Trinkerszene dem Willy-Brandt-Platz den Rücken gekehrt . Das Tor zur Einkaufsstadt präsentiert sich neuerdings so einladend, wie Kaufleute und Marketingexperten es sich gewünscht haben. Weil sich die Szene allerdings – wie zu erwarten war – nicht aufgelöst hat, entwickelt sich jetzt die Südseite des Hauptbahnhofs an der Freiheit zum neuen Brennpunkt.

Kai (48) aus Frohnhausen gehört der Szene gefühlt schon eine kleine Ewigkeit an. Am Mittwochmorgen hockt er um kurz vor halb zwölf noch allein auf den Treppenstufen vis-à-vis dem Evag-Kundencenter. „Am Willy-Brandt-Platz gab’s ständig Ärger mit den Bullen und dem Ordnungsamt, zuletzt Platzverweise und schlimmstenfalls sogar Polizeigewahrsam“, berichtet er. Vor etwa zwei, drei Monaten sei man widerwillig von der Nord- auf die Südseite umzogen. „Wir sind meistens 20 bis 25, nachmittags oft auch viel mehr“, fügt er hinzu.

Leoni: „Das erste Heroin habe ich mit 13 gedrückt“

Dann wird getrunken, geraucht, gequatscht, gelacht – aber auch gerauft, wie Bundespolizisten berichten. Bei aller Widersprüchlichkeit: Treffpunkte wie diese erfüllen in der Szene eine wichtige soziale Funktion. Hier gibt es – zwischen Drogentherapie, Knast und privaten Rückschlägen – eine kräftige Dosis Lagerfeuer-Feeling mit etwas menschlicher Wärme.

Leoni aus Huttrop, gelernter Maler und Lackierer, ist hier ebenfalls Stammgast. Er ist 28 und – von kurzen Clean-Phasen abgesehen – schon seit 13 Jahren heroinabhängig. „Das erste Heroin habe ich mit 13 geraucht und gedrückt, mit 14 war ich richtig dabei.“ Sein polizeiliches Führungszeugnis listet mehrere kurze Haftstrafen auf, die sich zu insgesamt zweieinhalb Jahren addieren. Stets für Bagatelldelikte, wie er betont: Schwarzfahren, Hausfriedensbruch, Widerstand gegen Beamte, Beleidigung – niemals für Diebstähle. „Ich schnorre am Bahnhof, so kriege ich jeden Tag die 80 Euro für den Stoff.“

Szeneleute: „Wir sind keine schlechten Menschen“

Gegen zwölf Uhr füllen sich die langgezogenen Treppen allmählich. Es ist ein bisschen wie im Amphitheater. „Die Leute, die hier stehen, sind keine schlechten Menschen“, beschwört Leoni. „Wir helfen der Mutter mit dem Kinderwagen oder der alten Frau mit dem Rollator.“

Doch Mitarbeiter der beiden Kundencenter – Evag und Deutsche Bahn – sehen andere, abstoßende Bilder: von Müll und Scherben, von Wildpinklern und Raufbolden. Wer den Hauptbahnhof an der Südseite, dem zweiten Portal zur Innenstadt, verlässt, geht zum Fernbus-Bahnhof, ins Folkwang Museum, auf die Flaniermeile Rü oder ins Büro von Evonik und RWE. „Mit der Szene auf der Treppe gibt Essen kein gutes Bild ab“, sagt einer im DB-Kundencenter. Direkt überm Evag-Kundencenter befindet sich die DB Lounge für Erste-Klasse-Passagiere.

Hilferuf aus dem Evag-Kundencenter

Seitdem sich die Szene an der Freiheit trifft, habe die Vermüllung spürbar zugenommen, klagt Evag-Vertriebschef Nils Hoffmann. Nach einem besonders ekelhaften Vorfall erhielt er vor kurzem einen verzweifelten Hilferuf aus dem Evag-Kundencenter. „Ein alkoholisierter Mann hatte gegen die Scheibe des Kundencenters uriniert – vor den Augen von Mitarbeitern und Kunden.“

Die Evag könne diese neue Situation an der Südseite keinesfalls dulden. Der Vertriebschef stellt eine klare politische Forderung: „Es ist im Interesse der Evag und unserer Kunden, dass sich die Szene hier nicht mehr trifft.“

Bundespolizist legt angetrunkenen Angreifer in Handschellen

Die Szeneleute fühlen sich seit Jahren hin- und hergeschubst. Und wollen unbedingt bleiben. „Wenn eine Pulle umfällt, bringen wir die Scherben weg“, sagt Leoni. Er deutet auf einen großen Lidl-Einkaufswagen, der als Müllwagen dient. Geschäftsleute hingegen berichten, dass der Treppenbereich jeden Morgen komplett gereinigt, aber mittags schon wieder versifft sei. Kai und Leoni halten dagegen: „Wenn einer hier in die Ecke pinkelt, kriegt er zuerst ‘ne Ansage und danach einen in die Fresse.“

Wie rasch die Stimmung auf der Treppe umschlagen kann, zeigt ein Vorfall um kurz nach zwölf. Bundespolizisten legen einen vollgedröhnten jungen Marokkaner in Handschellen, der mit dem Hals einer zerdepperten Bierflasche auf einen Kumpan losgegangen war. „Schlägereien sind normal hier“, sagt der Polizist. Er wird eine Anzeige wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung schreiben – und den aggressiven Mann später laufen lassen.

>>> DAS SAGEN STADT UND DEUTSCHE BAHN

Das Ordnungsdezernat der Stadt habe den neuen Szenetreff im Blick, sagt eine Stadtsprecherin. Ordnungsamts-Mitarbeiter würden beinahe täglich Platzverweise aussprechen. Ferner kooperiere man mit Polizei und Bundespolizei. Das Ziel: Die Szene soll nicht anwachsen.

Ein Bahn-Sprecher in Düsseldorf bestätigt, dass die Trinkerszene zur Südseite umgezogen ist. „Die Szeneleute werden von DB-Sicherheit aufgefordert, das Bahngelände zu verlassen.“ Nur: Der Abschnitt vor dem Evag-Kundencenter ist nicht mehr Bahn-, sondern städtisches Gelände.