Essen/Dortmund. Vor über 30 Jahren wurde der kleine Nara Michael aus Essen ermordet. Nun wird der Fall am Landgericht Dortmund erneut aufgerollt.
- Vor über 30 Jahren wurde der sieben Jahre alte Nara Michael aus Essen ermordet
- Ein Mann wurde dafür verurteilt, doch es taucht ein Geständnis eines anderen Mannes auf
- Nun beschäftigt der Fall die Justiz erneut: Es kommt zum Wiederaufnahmeverfahren
Es ist ein freundlich lächelnder Mann, der am Donnerstagnachmittag leicht tänzelnd in seiner blauen Regenjacke über die Kaiserstraße in Dortmund spaziert. Die Passanten, die ihm begegnen, wissen nicht, welche Geschichte er verbirgt. Ist der 53 Jahre alte Dirk K. aus Essen ein brutaler Sexualmörder, der das Leben eines sieben Jahre alten Jungen auf dem Gewissen hat? Oder ist er ein Mann, der fast 30 Jahre lang unschuldig in der geschlossenen Psychiatrie gesessen hat? Eingesperrt von der Justiz für eine Tat, die er womöglich nie begangen hat. Ein Unschuldiger?
Jetzt soll die Strafkammer 37 a am Landgericht Dortmund aufklären, was im April 1985 im Essener Ortsteil Stadtwald wirklich geschah. Der sieben Jahre alte Nara-Michael war am 22. April vom Spielen nicht nach Hause zurückgekehrt. Intensive Suchaktionen brachten am nächsten Morgen die traurige Gewissheit. Unter einem Ilexgebüsch im Schellenberger Wald lag die Leiche des Kindes - nur 300 Meter entfernt vom Elternhaus.
Dirk K. gestand die Tat zunächst, widerrief sie dann aber
Der Fall hatte die Stadt erschüttert. Schon nach wenigen Tagen präsentierte die Polizei den mutmaßlichen Mörder. Sie nahm Dirk K. fest, einen damals 21 Jahre alten Mann aus der Nachbarschaft. Es hieß, dass der geistig Behinderte schon früher Jungen angesprochen habe. Spur Nr. 81 hatte die Polizei zu ihm geführt.
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Der Fall schien schnell geklärt. Bei der Polizei soll Dirk K. ein Geständnis abgelegt haben, das er später auch wiederholte. Doch dann widerrief er es. Das Essener Schwurgericht hielt ihn im November 1986 dennoch für den Täter. In nichtöffentlicher Sitzung sprach es ihn zwar wegen Schuldunfähigkeit frei, wies ihn aber wegen seiner Gefährlichkeit für die Allgemeinheit in die geschlossene Psychiatrie ein. Das Urteil wurde rechtskräftig, um Dirk K. wurde es still.
Tatsächlich spielte sich hinter den Kulissen ein Justizkrimi ab. Denn 1996 meldete sich ein Mann, der ebenfalls in einer Therapieeinrichtung saß. Er bekannte sich zu dem Mord. Doch Polizei und Justiz winkten ab. Es sei kein plausibles Geständnis, passe auch nicht zu den Details des Falls. Später widerrief der Mann dieses Geständnis.
Wieder geschah nichts, bis 2012 der Hamburger Rechtsanwalt Achim Lüdeke den Fall in die Hände bekam. Er entdeckte in der Akte das Geständnis des anderen Mannes und beantragte am zuständigen Landgericht Dortmund die Wiederaufnahme des Essener Verfahrens.
Andere Dortmunder Strafkammer genehmigte das Wiederaufnahmeverfahren
Offene Türen rannte er damit bei der Justiz nicht ein. Das Schwurgericht am Landgericht Dortmund lehnte den Antrag ab, es hielt das zweite Geständnis ebenfalls für nicht plausibel. Anwalt Lüdeke legte Beschwerde ein, und das Oberlandesgericht Hamm ordnete eine erneute Prüfung seines Antrags an.
Diesmal hatten Lüdeke und Mandant Dirk K. Erfolg. Eine andere Dortmunder Strafkammer genehmigte das Wiederaufnahmeverfahren, Dirk K. kam Anfang 2016 frei, weil das Gericht angesichts des zweiten Geständnisses erhebliche Zweifel an seiner Täterschaft hatte.
Mit der Strafkammer 37a unter Vorsitz von Ulf Pennig wird jetzt die vierte Strafkammer prüfen, wer Nara-Michael sexuell missbraucht und ermordet hat.
Vermutlich wird das neue Verfahren mit einem Freispruch enden. Das alte Urteil gilt nicht mehr, es gilt nur die alte Anklage. Doch wer will heute noch rekonstruieren, wie das frühere Geständnis von Dirk K. bei der Polizei zustande kam? Zeugen sind verstorben, auch Richter, Polizisten, Staatsanwälte. Und diejenigen, die noch leben, werden Mühe haben, sich vor Gericht an die Einzelheiten eines 32 Jahre zurückliegenden Mordes zu erinnern. Auf diese Beweismittel wird kaum ein Gericht eine zweifelsfreie Verurteilung stützen können.
Ob die Justiz Fehler gemacht hat, das bleibt im Verborgenen
Überprüfen kann die Öffentlichkeit die neue juristische Klärung nicht. Ob die Justiz Fehler gemacht hat, das bleibt im Verborgenen. Denn die Strafkammer macht auf Antrag von Staatsanwalt Jörg Schulte-Göbel von der selten genutzten rechtlichen Möglichkeit Gebrauch, in einem Unterbringungsverfahren die Öffentlichkeit auszuschließen. Das ist möglich, wenn der Beschuldigte in der geschlossenen Psychiatrie untergebracht werden soll.
Verteidiger Achim Lüdeke schließt sich dem Antrag an. Zuvor hatte er allerdings im Gerichtssaal spontan eine Art Pressekonferenz abgehalten. Er wolle nicht von einem Justizskandal sprechen, sagt er den Journalisten. Aber dass jemand so lange Zeit unschuldig weggesperrt wurde, habe er noch nie erlebt. Es erinnere ihn an US-Fälle.
Später sagt er zur WAZ, dass sein Mandant sich vor Gericht nicht äußern werde, er aber eine Verteidigererklärung abgeben wolle. Er hoffe, dass es zu einem “Freispruch erster Klasse” kommen werde, welcher seinen Mandanten als unschuldig bezeichnet. Er denke, dass dann der wahre Täter zur Verantwortung gezogen werde. Wenn er damit den Mann mit dem zweiten Geständnis meint, ist das sehr optimistisch. Denn für diesen Verdächtigen, der sein Geständnis ja auch widerrief, dürfte die Beweislage nicht besser sein - nach 32 Jahren. Bislang hat die zuständige Staatsanwaltschaft Essen ihn auch nicht angeklagt.