Essen. Vato hat weder Schulabschluss noch Job, sein Leben ist geprägt von Gewalt, Drogen und Perspektivlosigkeit. Ein Blick in eine verschlossene Welt.

  • Ein 22-jähriger Borbecker hat weder Schulabschluss noch Job noch eine Perspektive
  • Das Leben des junges Mannes war bisher geprägt von Gewalt und Drogen
  • Ein persönlicher Einblick in eine meist verschlossene Welt mitten in Essen

„Guck mal wie die Leute mich angucken. Die denken, ich wär ein scheiß Kanake“, sagt Vato* und läuft selbstbewusst mit dem Joint in der Hand mitten durch Essen-Borbeck. Er glaubt es in den Blicken der Menschen zu sehen, wie sie über ihn denken. Es ist ein grauer Wintertag. Auf seinem etwas zu groß geratenen Shirt steht 45. Die Zahlen stehen für die ersten beiden Ziffern der Essener Postleitzahl.

Vato ist 22, fast zwei Meter lang, trägt Kurzhaarschnitt wie ein Boxer. Seine Mutter ist Französin, sein Vater Libanese. Er ist Borbecker. Hier kennt er sich aus. „Guck mal, da sind unsere Alkoholiker, immer die gleichen Gesichter.“ Ein paar Meter weiter läuft ein verstört guckender Mann an Vato vorbei und grüßt. „Der arme ist ein Heroin-Junkie.“

Im sozialen Brennpunkt in Borbeck großgeworden

Vato ist in Borbeck groß geworden, in der Preisstraße, am Ende der Straße, am Wendekreis. In den Eingangsbereichen der Wohnhäuser fliegen Papierfetzen herum. Die unteren Kacheln an der Fassade sind zerbrochen. Weil die Schäden überhand nahmen, wurde das Glas in den Türen vor Jahren durch Metall ersetzt. In den Fluren sind Schmierereien zu sehen.

Es ist eine polizeibekannte Gegend, ein sogenannter sozialer Brennpunkt: Hohe Arbeitslosigkeit, hohe Kriminalitätsrate, niedriger Bildungsstand und ein hoher Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund. Keine guten Voraussetzungen, um es zum Abitur zu schaffen, geschweige denn einen Hochschulabschluss zu absolvieren, wie diverse Studien belegen.

Mit elf Jahren wegen Körperverletzung erstmals aufgefallen

Von Statistiken hat Vato keine Ahnung, doch er bestätigt diese. Sein Vorstrafenregister ist lang. Zum ersten Mal ist er mit elf Jahren polizeilich wegen Körperverletzung aufgefallen. „Ich hab einem Typen ‘ne Kopfnuss verpasst. Mit mir war nichts, aber er war fertig,“ sagt er mit einem Schmunzeln im Gesicht. „Ich hab auch Schläge abbekommen, die muss man abkriegen. Wenn nicht, weiß man nicht, was eine Schlägerei ist“, sagt er mit ernster Stimme. Der Satz klingt aus seinem Mund, wie ein Gesetz. Es folgte eine Serie von Verurteilungen wegen schwerer Körperverletzung, Drogendelikten und Einbrüchen. „Das ganze Programm“.

„Gestern Nacht kam die Polizei. Der Typ vom Erdgeschoss hat seine Frau geschlagen“, erzählt Vato fast beiläufig wie andere über das Wetter reden. Er ist äußerlich abgehärtet, sein Leben ist geprägt von Gewalt. Bereits im Grundschulalter gehörten Schläge zu seinem Alltag. Noch bevor er morgens früh das Haus verließ, hat ihn sein Vater wegen Kleinigkeiten verprügelt, sagt er. Er musste auch mit ansehen, wie seine Mutter und seine kleinen Geschwister geschlagen wurden. „Ich war mit meinen Gedanken zu Hause und spürte die Schmerzen auf meinem Körper, während ich in der Schule war“, sagt Vato mit erregter Stimme.

Die Gewalterfahrung im Elternhaus gab er immer weiter

Um den Problemen im Elternhaus zu entkommen, verbrachte er viel Zeit auf der Straße, mit Freunden, die ähnliches erlebt hatten wie er. Eine Art Flucht. Dann kam die Scheidung. Vato als ältester musste Verantwortung für seine sieben kleinen Geschwister übernehmen. Für einen Elfjährigen zu viel, wie er sagt. Die Flucht ging weiter. Dann nicht mehr vor der Gewalt im Elternhaus, sondern vor der Verantwortung. Die Gewalt, die er erfahren hat, gab er weiter, um gefürchtet zu werden, sich einen Namen zu machen.

Vato reißt seine große Hand auf. Zu sehen ist eine Narbe auf der Handfläche. „Das ist von einer Schlägerei letzte Woche“. Jemand hat ihm mit dem Messer in die Handfläche gestochen, als er den Stich abwehren wollte. Vato war allein, wie so oft, die anderen waren zu dritt. Er ist ein Einzelgänger geworden. „Der einzige Kreis, in dem ich mich bewege, ist der Wendekreis vor meiner Haustür“.

„Mein Motto war: Hast du was, bist du was, hast du nichts, bist du nichts“

Die Zeit im Knast hat sein Denken und Handeln verändert. Mit 14 wurde er zum ersten Mal zu einem Wochenendarrest verdonnert, wegen Körperverletzung. Es folgten weitere Wochenenden hinter Gittern und eine mehrwöchige Haftstrafe – Vato weiß nicht mehr genau warum. Seine Mutter zog die Notbremse und schickte ihren Sohn für zwei Monate in den Libanon, in der Hoffnung, dass er dort zur Vernunft kommt.

Funktioniert hat das nicht. Zurück in Deutschland machte er da weiter, wo er vorher aufgehört hatte. Er startete mit zwei weiteren Jungs eine Raubserie, für die er ein Jahr und sechs Monate gesessen hat. Das erbeutete Geld gab er genauso schnell aus, wie er es beschafft hatte, etwa für Markenklamotten. Es ging darum zu zeigen, was man hatte. „Mein Motto war: Hast du was, bist du was. Hast du nichts, bist du nichts.“

Kurs in der VHS, um erneutem Knastaufenthalt zu entgehen

Einen Schulabschluss hat Vato nicht. „Ich gehe in die Volkshochschule. Eine Bewährungsauflage, damit ich nicht in den Knast muss.“ Wie es danach weiter geht, weiß er nicht. „Mein Ziel ist es, ein Ziel zu finden“, sagt er und gesteht sich ein, keine Perspektive zu haben. Er kann sich kein anderes Leben vorstellen, als das, das er lebt. „Ich kenne kein anderes.“

Ein Ball knallt gegen das Metalltor der angrenzenden Kita. In der Preisstraße spielen fast 20 kleine Kinder im Wendekreis Fußball. Vato beobachtet die Szene, seinen Joint hat er aufgeraucht, steckt sich jetzt eine Zigarette an. Diese Kinder würden einen ähnlichen Weg gehen, wie er, glaubt er. Die Statistik widerspricht ihm nicht.

* Name geändert