Von Notfallrationen, Kuschelsocken und Klapprädern: Manche Essener Pendler sitzen auf dem Weg zur Arbeit mehrere Stunden im Zug .
Die U-Bahn schweigt am frühen Morgen. Es ist 4.55 Uhr, ein Freitag, Haltestelle Wickenburgstraße. Anica Isermann steigt in die U18 zum Hauptbahnhof. Um sie herum: Müde dreinschauende Gestalten, die Frühschicht auf dem Weg zur Arbeit, manche nippen an ihrem Kaffeebecher – niemand spricht, nur die Fahrgeräusche und die elektronischen Haltestellenansagen stören die Stille.
Für Anica Isermann beginnt fast jeder Tag in der U18, fünf Mal in der Woche pendelt sie von Frohnhausen zu ihrer Arbeitsstelle ins 90 Kilometer entfernte Münster.
„Meine Freunde haben gesagt, ich sei verrückt“, erzählt die 29-Jährige eine halbe Stunde später in der Regionalbahn. Sie arbeitet seit einigen Monaten als Krankenpflegerin im Uniklinikum in Münster, studiert dort neben der Arbeit an der Fachhochschule Pflege- und Gesundheitsmanagement. Der Job im tiefsten Westfalen, das Leben im Ruhrgebiet. So will es Isermann. In Essen hat sie ihren Mittelpunkt, Freunde und Familie. „Ein Umzug kommt für mich nicht in Frage. Ich will gar nicht so nah an der Arbeit wohnen.“ Also fährt sie die Strecke, investiert allein für den Weg nach Münster und zurück täglich mehr als vier Stunden Zeit.
Alltag steckt im Rucksack
Gependelt ist Anica Isermann eigentlich schon immer: erst zur Schule quer durch die Stadt, dann zur Ausbildung nach Gelsenkirchen, später zur ersten Arbeitsstelle nach Bochum. Nie mit dem Auto, immer mit Bus und Bahn.
Der Essener Hauptbahnhof in Zahlen
„Ich fahre total gerne Zug“, sagt sie. Zeitverschwendung durchs Pendeln? Die 29-Jährige sieht das anders. „Die Zeit in der Bahn kann ich für mich nutzen, ein gutes Buch lesen, was fürs Studium erledigen. Das ist alles eine Frage der Organisation, dann funktioniert das ohne Stress.“ Zwischen Hauptbahnhof, Regionalzug und Stadtbus steckt ihr Alltag in einem bunten Rucksack: Kaffeebecher und Regenschirm, ein Aufladegerät fürs Handy, die „Zugfahr“-Socken mit dem Krümelmonster aus der Sesamstraße drauf, eine Notfallration Süßigkeiten, falls mal wieder eine plötzliche Stellwerksstörung für Wartezeiten sorgt – oder der Betrieb anderweitig lahmgelegt wird. So wie im September, als sie wegen des falschen Kofferalarms weit über eine Stunde im Zug kurz hinter dem Hauptbahnhof festhing.
Von Rüttenscheid nach Bonn
Benjamin Gentz kennt solche und andere Probleme, nimmt sie aber meistens locker: „Nichts ist schlimmer, als umsonst zu einem Zug zu rennen und deswegen zu schwitzen“, sagt der pendelerfahrne 35-Jährige. Seit fünf Jahren arbeitet er beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Bonn. Der Weg zur Arbeit beginnt für den Rüttenscheider auf seinem Klapprad. Von seiner Wohnung fährt er die wenigen Kilometer zum Hauptbahnhof. Zusammengeklappt verstaut er das Rad im ICE nach Köln-Deutz, von dort geht es mit der Regionalbahn weiter in den rechtsrheinischen Bonner Stadtteil Oberkassel. Auch Gentz ist von der Haus- zur Bürotür gute zwei Stunden unterwegs. „In den fünf Jahren bin ich rund 140 000 Kilometer mit dem Zug gefahren.“
Der ICE ist an diesem Morgen voll mit Männern, die in schwarzen Anzügen stecken und schwarze Aktentaschen dabei haben. Unter all den Geschäftsleuten sticht Gentz mit Jeans und Klapprad ein wenig heraus. „Es gibt aber immer mehr, die so ein Fahrrad mitnehmen, ist ja auch sehr praktisch“, sagt er. Wie für Anica Isermann ist die lange Zugfahrt für ihn keine Belastung. „Ich habe mich bewusst fürs Pendeln entschieden. Ich lese dann Zeitung, bin im Internet unterwegs, frühstücke in Ruhe.“
Den Luxus mit dem Schnellzug gönnt er sich allerdings, um flexibler und schneller zu sein als mit dem Nahverkehr. 4190 Euro legt er jedes Jahr für die Bahncard 100 hin – sozusagen die Flatrate unter den Abotickets. Sie gilt deutschlandweit in fast allen Zügen und in vielen Verkehrsverbünden.
Der Bahnhof ist zentraler Ort
Jetzt im Winter sieht Anica Isermann nicht viel Tageslicht. Im Dunkeln fährt sie los, im Dunkeln steigt sie am Klinikum in Münster aus dem Bus, auf dem Rückweg hat längst die Dämmerung eingesetzt.
Dieses Mal ist die Essenerin erst recht spät dran, im Krankenhaus hatte sie die Zwölf-Stunden- Schicht. Wenigstens fährt der Regionalexpress pünktlich um 19.17 Uhr in Essen ein. Der Hauptbahnhof ist ein zentraler Ort im Leben der 29-Jährigen: Nach Feierabend geht sie schnell beim Discounter oder in der Drogerie einkaufen. „Ich lebe ganz schön viel vom Bahnhof. Das ist ein Vorteil, ich muss nach der Arbeit nirgendwo mehr hinfahren, sondern kann fast alles hier besorgen.“ Danach nimmt Isermann die U-Bahn zurück nach Frohnhausen. Wochenende – zwei Tage ohne Züge.