Nur für einen Cappuccino würde Karl Naumann nicht zum Hauptbahnhof kommen – zu wenig Flair. Dafür gefällt dem Experten die Funktionalität.

Wenn sich jemand mit Bahnhöfen auskennt, dann er: Karl-Peter Naumann ist Ehrenvorsitzender des Interessensvereins „Pro Bahn“ und sitzt für die „Allianz pro Schiene“ in der Jury für den Bahnhof des Jahres. Ein Gespräch über Service, Funktionalität und Flair.

Herr Naumann, was macht einen guten Bahnhof aus?

Naumann: Service und Organisation müssen stimmen. Für die Reisenden muss es einen Ansprechpartner und genügend Möglichkeiten geben, ein Ticket zu kaufen. Die Beschilderung muss nachvollziehbar sein, Toiletten müssen ebenso da sein wie Geschäfte für den Reisebedarf, es darf keine dunklen Ecken geben. Genauso wichtig ist die Integration in die Stadt: Erreichbarkeit mit dem Auto, Verknüpfung mit Taxis oder dem öffentlichen Nahverkehr.

Wie gefällt Ihnen der Essener Hauptbahnhof?

Wären alle Bahnhöfe wie der Essener, könnten wir froh sein, gerade im Ruhrgebiet. Er ist sauber, es gibt keinen wirklich schmuddeligen Ausgang. Die Beschilderung ist vernünftig, selbst die etwas entlegenen Gleise 21 und 22 findet jemand, der in Eile ist, schnell. Generell findet man sich hier als Nicht-Essener gut zurecht. Es gibt genügend Geschäfte, der Bahnhof liegt zudem sehr zentral in der Stadt – da bin ich gleich mittendrin. Gerade für eine gelungene Verknüpfung mit dem öffentlichen Nahverkehr ist Essen ein sehr gutes Beispiel, den U-Bahnhof kann man ja erreichen, ohne ganz aus dem Bahnhof raus zu müssen.

Der Essener Hauptbahnhof in Zahlen

2

Minuten dauert die Fahrt vom Hauptbahnhof zum S-Bahn-Halt Essen West. Kein Bahnhof ist näher dran am Hauptbahnhof. 609 Minuten im ICE sind es hingegen zum Hauptbahnhof in Wien, dem am weit entferntesten von Essen ohne Umsteigen erreichbare Ziel.

6

Eisenbahnverkehrsunternehmen fahren den Hauptbahnhof derzeit an: DB Regio, Abellio und die Nordwestbahn im Regionalverkehr, DB Fernverkehr, Thalys und der Hamburg-Köln-Express (HKX) im Fernverkehr. In diesen Markt kommt in den nächsten Jahren ordentlich Bewegung.

5700

Quadratmeter Vermietungsfläche gibt es insgesamt im Hauptbahnhof. Im Vergleich mit Köln (11.500 Quadratmeter), Düsseldorf (9928 Quadratmeter) und Dortmund (9693 Quadratmeter) steht Essen deutlich zurück.

40

Mieter hat der Bahnhof derzeit – von der Bahnhofsbuchhandlung über mehrere Bäcker bis zum Schnellrestaurant. Mit Starbucks, McDonalds oder Subway findet man die typischen Gastronomie-Ketten, zu den Besonderheiten gehört die Filiale des Discounters Lidl, auch die Drogeriekette DM hat dort eine Niederlassung. 

12

Kassen gibt es in der Lidl-Filiale, 54 Mitarbeiter arbeiten dort, 1600 Produkte sind im Angebot. Mehr will die Pressestelle des Unternehmens nicht über das Geschäft verraten.

0

Bahnhofskneipen gibt es im Hauptbahnhof. Die Traditionskneipe „Bierfass“ mit ihrer rustikalen Eichenholzeinrichtung überlebte den Umbau zur Kulturhauptstadt nicht, passte nicht mehr ins Konzept.

170 000

Besucher hat der Essener Hauptbahnhof am Tag. Gemessen an dieser Zahl gehört er zu den zehn größten in Deutschland. In Nordrhein-Westfalen zählen lediglich die zentralen Bahnknotenpunkte in Köln (280.000) und Düsseldorf (250.000) mehr Besucher.

81 Prozent

der Deutsche-Bahn-Kunden denken beim Stichwort Bahn zuerst an den Bahnhof. Das hat zumindest eine Kundenumfrage der Bahn ergeben. Demnach ist der Bahnhof der Identifikations-Faktor Nummer eins für Zugreisende, deutlich vor dem ICE.

55

Bahnhöfe werden insgesamt vom Bahnhofsmanagement Essen betreut. Dazu gehören insgesamt 26 Bahnhöfe auf Essener Stadtgebiet, zuvorderst der Hauptbahnhof. Hinzu kommen unter anderem die Hauptbahnhöfe in Bochum, Gelsenkirchen, Wanne-Eickel oder Witten. Das Bahnhofsmanagement kümmert sich um Organisation und Service.

57

Millionen Euro hat der Umbau des Hauptbahnhofes rechtzeitig zum Kulturhauptstadtjahr 2010 gekostet. Gearbeitet und saniert wurde insgesamt 16 Monate lang.  Zum Vergleich: Für die im kommenden Jahr beginnende Modernisierung des Duisburger Hauptbahnhofes sind rund 150 Millionen Euro veranschlagt.

24

Stunden am Tag ist der Bahnhof für die Öffentlichkeit zugänglich. Es halten auch die gesamte Nacht über Züge im Bahnhof. Wer mitten in der Nacht Hunger verspürt: Das McDonalds-Restaurant schließt seine Türen nie.

800

Züge im Linienverkehr halten durchschnittlich am Bahnhof – und das jeden Tag: 400 S-Bahnen, 220 Regionalzüge und 180 Fernverkehrszüge.

664

Meter misst der längste Bahnsteig in Essen - der Bahnsteig an Gleis 4. Essen ist damit in der Rangliste der längsten Bahnsteige in Deutschland weit vorne, angeblich hat Mainz den längsten mit über 700 Meter. Zum Vergleich: Der neue ICE 4 ist 346 Meter lang.

14

Gleise gibt es im  Hauptbahnhof insgesamt. Gleis drei hat keinen Bahnsteig, acht Gleise sind Durchgangsgleise, außerdem gibt es fünf sogenannte Stumpfgleise. Diese Gleise enden am Hauptbahnhof. Die abgetrennten Seitenbahnsteige 21/22 weichen von der durchgehenden Nummierung ab. Die Bahnsteige 13 bis 20 fehlen deshalb komplett.

3

Stellwerke im Stadtgebiet sind ständig besetzt. Neben dem am Hauptbahnhof  noch die in Steele und Altenessen. Vom großen Stellwerk aus wird nicht nur der Bahnhofsverkehr gesteuert, sondern unter anderem die S6-Strecke bis Ratingen.

7

Jahre musste die Essener Bundespolizei darauf warten, wieder in den Bahnhof einziehen zu können. Während des Umbaus wurde die Wache 2009 an die Herkulesstraße verlegt, 800 Meter vom Ort des Geschehens entfernt. Eigentlich war der Rückumzug früher geplant, doch weil eine bei den Arbeiten beteiligte Firma pleite ging, verzögerte er sich bis Juli 2016.

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Wo gibt es denn Verbesserungspotential?

Was die Funktionalität angeht, ist da nicht wirklich viel, was man besser machen kann. Meiner Meinung nach könnte es auf den Bahnsteigen und im Empfangsgebäude vielleicht etwas mehr Sitzgelegenheiten geben.

Wenn das so ist: Wie stehen die Chancen, dass der Essener irgendwann mal zum „Bahnhof des Jahres“ gewählt wird?

Essen hat einen guten Bahnhof keine Frage, aber keinen, der Preise gewinnt. Hier ist alles funktional und gut organisiert. Aber es fehlt das gewisse Flair, eine Persönlichkeit. Der Essener Bahnhof hat kein eigenes Gesicht, es gibt wenig, woran man sich erinnert, wenn man kurz hier war. Nehmen wir mal Stralsund als Beispiel, den Siegerbahnhof von 2016. Dort stimmt die Funktionalität genauso, aber es gibt in der Eingangshalle ein hölzernes Deckengebälk und ein riesiges Wandgemälde – das schafft eine Atmosphäre, man freut sich darauf, dort zu sein – auch, wenn man gar nicht mit dem Zug fährt. In Essen würde ich aus der Stadt nicht extra zum Bahnhof gehen, um dort mit einem Freund einen Cappuccino zu trinken.

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