Ein Interview mit dem Wirtschaftsgeografen Rudolf Juchelka. Für ihn ist der Hauptbahnhof mehr als ein Ort, an dem Züge halten und abfahren.

Rudolf Juchelka leitet den Lehrstuhl für Wirtschaftsgeografie, Logistik und Verkehr an der Uni Duisburg-Essen. Im Interview spricht er über die Funktionen eines Hauptbahnhofes, Essener Besonderheiten und regt ein Quartiersmanagement fürs Bahnhofsumfeld an.

Herr Professor Juchelka, was ist ein Hauptbahnhof für ein Ort?

Juchelka: Diese Frage stelle ich meinen Studenten auch. Meist ist die Antwort dann: Ein Ort, an dem Züge ankommen und wegfahren. Diese Definition ist aber schon seit 30 Jahren veraltet. Heute ist ein großer Hauptbahnhof ein Ort mit vielen Funktionen. Der Zugverkehr ist nur eine davon, wenn auch immer noch die wichtigste. Essen ist dafür ein idealtypisches Beispiel.

Warum?

Der Hauptbahnhof verbindet die südliche Bürocity mit der Innenstadt und damit der Einkaufsstraße – er hat also eine Verbindungsfunktion. Dann ist der Bahnhof ein eigener Wirtschaftsraum, es gibt Geschäfte wie etwa den Lidl. Dort gehen die Leute sonntags einkaufen – sie kommen deshalb zum Bahnhof und nicht, weil sie mit dem Zug fahren. Durch seine zentrale Lage hat der Hauptbahnhof auch die Funktion als ein städtisches Zentrum.

Nicht viele Bahnhöfe liegen so zentral in der Fußgängerzone.

Genau. Nehmen Sie Düsseldorf oder Frankfurt als Beispiel. Da muss man erst noch drei Stationen mit der U-Bahn fahren, bevor man in der Innenstadt ankommt. In Essen ist der Bahnhof das Tor zur Innenstadt, das ist total selten. Vor allem für die Geschäfte in unmittelbarer Nähe ist das ein Standortvorteil. Die müssen dankbar sein, dass der Bahnhof als sogenannter Hochfrequenzbringer da ist. Die gute Lage des Bahnhofs wird mir in der Stadt aber noch zu wenig genutzt.

Der Essener Hauptbahnhof in Zahlen

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Minuten dauert die Fahrt vom Hauptbahnhof zum S-Bahn-Halt Essen West. Kein Bahnhof ist näher dran am Hauptbahnhof. 609 Minuten im ICE sind es hingegen zum Hauptbahnhof in Wien, dem am weit entferntesten von Essen ohne Umsteigen erreichbare Ziel.

6

Eisenbahnverkehrsunternehmen fahren den Hauptbahnhof derzeit an: DB Regio, Abellio und die Nordwestbahn im Regionalverkehr, DB Fernverkehr, Thalys und der Hamburg-Köln-Express (HKX) im Fernverkehr. In diesen Markt kommt in den nächsten Jahren ordentlich Bewegung.

5700

Quadratmeter Vermietungsfläche gibt es insgesamt im Hauptbahnhof. Im Vergleich mit Köln (11.500 Quadratmeter), Düsseldorf (9928 Quadratmeter) und Dortmund (9693 Quadratmeter) steht Essen deutlich zurück.

40

Mieter hat der Bahnhof derzeit – von der Bahnhofsbuchhandlung über mehrere Bäcker bis zum Schnellrestaurant. Mit Starbucks, McDonalds oder Subway findet man die typischen Gastronomie-Ketten, zu den Besonderheiten gehört die Filiale des Discounters Lidl, auch die Drogeriekette DM hat dort eine Niederlassung. 

12

Kassen gibt es in der Lidl-Filiale, 54 Mitarbeiter arbeiten dort, 1600 Produkte sind im Angebot. Mehr will die Pressestelle des Unternehmens nicht über das Geschäft verraten.

0

Bahnhofskneipen gibt es im Hauptbahnhof. Die Traditionskneipe „Bierfass“ mit ihrer rustikalen Eichenholzeinrichtung überlebte den Umbau zur Kulturhauptstadt nicht, passte nicht mehr ins Konzept.

170 000

Besucher hat der Essener Hauptbahnhof am Tag. Gemessen an dieser Zahl gehört er zu den zehn größten in Deutschland. In Nordrhein-Westfalen zählen lediglich die zentralen Bahnknotenpunkte in Köln (280.000) und Düsseldorf (250.000) mehr Besucher.

81 Prozent

der Deutsche-Bahn-Kunden denken beim Stichwort Bahn zuerst an den Bahnhof. Das hat zumindest eine Kundenumfrage der Bahn ergeben. Demnach ist der Bahnhof der Identifikations-Faktor Nummer eins für Zugreisende, deutlich vor dem ICE.

55

Bahnhöfe werden insgesamt vom Bahnhofsmanagement Essen betreut. Dazu gehören insgesamt 26 Bahnhöfe auf Essener Stadtgebiet, zuvorderst der Hauptbahnhof. Hinzu kommen unter anderem die Hauptbahnhöfe in Bochum, Gelsenkirchen, Wanne-Eickel oder Witten. Das Bahnhofsmanagement kümmert sich um Organisation und Service.

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Millionen Euro hat der Umbau des Hauptbahnhofes rechtzeitig zum Kulturhauptstadtjahr 2010 gekostet. Gearbeitet und saniert wurde insgesamt 16 Monate lang.  Zum Vergleich: Für die im kommenden Jahr beginnende Modernisierung des Duisburger Hauptbahnhofes sind rund 150 Millionen Euro veranschlagt.

24

Stunden am Tag ist der Bahnhof für die Öffentlichkeit zugänglich. Es halten auch die gesamte Nacht über Züge im Bahnhof. Wer mitten in der Nacht Hunger verspürt: Das McDonalds-Restaurant schließt seine Türen nie.

800

Züge im Linienverkehr halten durchschnittlich am Bahnhof – und das jeden Tag: 400 S-Bahnen, 220 Regionalzüge und 180 Fernverkehrszüge.

664

Meter misst der längste Bahnsteig in Essen - der Bahnsteig an Gleis 4. Essen ist damit in der Rangliste der längsten Bahnsteige in Deutschland weit vorne, angeblich hat Mainz den längsten mit über 700 Meter. Zum Vergleich: Der neue ICE 4 ist 346 Meter lang.

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Gleise gibt es im  Hauptbahnhof insgesamt. Gleis drei hat keinen Bahnsteig, acht Gleise sind Durchgangsgleise, außerdem gibt es fünf sogenannte Stumpfgleise. Diese Gleise enden am Hauptbahnhof. Die abgetrennten Seitenbahnsteige 21/22 weichen von der durchgehenden Nummierung ab. Die Bahnsteige 13 bis 20 fehlen deshalb komplett.

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Stellwerke im Stadtgebiet sind ständig besetzt. Neben dem am Hauptbahnhof  noch die in Steele und Altenessen. Vom großen Stellwerk aus wird nicht nur der Bahnhofsverkehr gesteuert, sondern unter anderem die S6-Strecke bis Ratingen.

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Jahre musste die Essener Bundespolizei darauf warten, wieder in den Bahnhof einziehen zu können. Während des Umbaus wurde die Wache 2009 an die Herkulesstraße verlegt, 800 Meter vom Ort des Geschehens entfernt. Eigentlich war der Rückumzug früher geplant, doch weil eine bei den Arbeiten beteiligte Firma pleite ging, verzögerte er sich bis Juli 2016.

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Was stellen Sie sich vor?

Die einzelnen Akteure müssen sich besser vernetzen. Für die Bahn hört der Bahnhof am Vorplatz auf, für die Händler am Eingang zum Bahnhof. Es müsste ein gemeinsames Quartiersmanagement für das Umfeld des Bahnhofs geben, in dem Bahn, Einzelhandel, die großen Konzerne auf der Südseite und die Stadt zusammenarbeiten. Man kann den Bahnhof nicht isoliert von seinem Umfeld betrachten. Nehmen wir als Beispiel ein höherwertiges Café. Das gibt es weder im Bahnhof noch im Umfeld. Dabei würde das gut passen, denn die Klientel dafür ist mit den vielen Geschäftsreisenden vorhanden. Ein integriertes Bahnhofskonzept könnte das Umfeld - das zwar bereits heute in einem guten Zustand ohne Angsträume oder soziale Brennpunkte ist - weiter aufwerten.

Was könnte noch besser werden aus städtebaulicher Sicht?

Der Übergang zum Willy-Brandt-Platz über die mehrspurige Hauptstraße ist nicht ideal. Hätte Essen genug Geld, würde ich sagen: Baut einen Tunnel für die Autos und lasst die Fußgänger oben drüber gehen. Das ist aber nicht realistisch. Sollte irgendwann mal wieder die Straßenbahn oberirdisch am Hauptbahnhof vorbeifahren über die geplante Bahnhofstangente, das würde den Übergang zur Innenstadt auch aufwerten. Sichtbarer Nahverkehr ist immer attraktiv für Städte.

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