Essen. . Der Wunsch vieler wohnungsloser Menschen nach einem bürgerlichen Leben macht sie empfänglicher für Hilfsangebote von Caritas und Diakonie.
- Durch die Russland-Sanktionen der EU verlor ein 48-Jähriger seine Existenz-Grundlage und seine Wohnung
- Seit einem dreiviertel Jahr schläft er in der Notübernachtungsstelle an der Lichtstraße
- Michael L. hat sich nicht aufgegeben, sondern wieder Arbeit gesucht. Jetzt hat er eine Wohnung gefunden
Ob der Oberbürgermeister bei seinen Worten an Michael L. gedacht hat? Der 48-Jährige hatte sein Auskommen im Handel mit Russland gefunden, Nahrungsergänzungs- und Diätmittel exportierte er gen Osten, dann kamen die EU-Sanktionen, „und mein Geschäft, meine Existenz brach innerhalb kürzester Zeit zusammen“. Gut 80 Prozent seines Umsatzes waren plötzlich weg, „über mir stürzte alles ein“, sagt der 48-Jährige, der gut gekleidet die Weihnachtsfeier besucht und so gar nicht dem Klischee eines Menschen entspricht, der ohne Wohnung auf der Straße steht.
Keine Suchtprobleme, keine Scheidung
Michael L. hat keine Suchtprobleme, keine Scheidung hinter sich – aber schnell Schulden angehäuft, vor allem Mietrückstände: „Mein Vermieter war nicht bereit, einen Rückstand von 300 Euro zu akzeptieren und zu stunden.“ Die Zwangsräumung war die Folge, was blieb, war die Notübernachtungsstelle an der Lichtstraße und das Sozialzentrum an der Maxstraße.
Michael L., der immer ein bürgerliches Leben gewohnt war, wollte und will sich nicht unterkriegen lassen. In einem Call-Center hat er Arbeit gefunden, lässt sich dafür jeden Morgen vom Wachdienst an der Lichtstraße wecken. Es ist nicht viel Geld „aber ich habe zum 1. Februar tatsächlich wieder eine kleine Wohnung gefunden“. Durch die Zwangsräumung sind aus den 300 Euro rund 4500 Euro Schulden geworden, wenn er darüber spricht, merkt man ihm die Verbitterung an.
Das Hilfsangebot ist wirklich gut
Er habe sich mit den politischen und wirtschaftliche Verhältnissen in Deutschland auseinander gesetzt, dennoch lehnt er einfache Antworten ab: „Aber dass ein befreundeter Familienvater von seinem Vollzeit-Job nicht leben kann, das ist ein Skandal.“ Und ihn ärgert, unter welchen Generalverdacht wohnungs- und obdachlose Menschen gestellt werden: „Da sind ganz wunderbare Frauen und Männer dabei.“ Aber natürlich hat er auch die kennengelernt, die sich nicht helfen lassen wollen: „Das ist wirklich dumm, weil das Hilfsangebot hier in Essen wirklich gut ist.“
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Das sieht Gustl, der mit 78 Jahren älteste Teilnehmer an der Feier, komplett anders: Er ist einer von gerade einmal 20 Essenern, die noch „Platte“ machen, die draußen schlafen. Bei ihm ist es eine einfache Garage, die er sogar angemietet und sich behelfsmäßig eingerichtet hat: „Mir fehlt da nix.“ Um die Rente zu beziehen, musste er dann doch mit dem Sozialzentrum an der Maxstraße zusammenarbeiten. Fünf Jahre lang hat er dort so gut wie kein Wort gewechselt. Alle staatlichen Angebote lehnt er rundweg ab und will nur seine Ruhe haben: „Ich komme alleine gut zurecht. Ich brauche keine Hilfe.“
Ein ganz normales bürgerliches Leben
Er ist einer von wenigen, Michael L. stellt da eher das Gros der Kundschaft dar, etwa jeder zweite Wohnungslose ist an einer Krise gescheitert, an Scheidung, Alkohol oder Job-Verlust, häufig miteinander gepaart. Sie lassen sich noch am ehesten stabilisieren und zurückführen, „da sie vorher ein ganz normales bürgerliches Leben hatten“, sagen Petra Kuhlmann und Stephan Knorr vom Beratungszentrum an der Maxstraße. Und das würden die meisten doch schätzen.
Sorgen bereitet den Sozialarbeitern die stark wachsende Zahl wohnungsloser Jugendlicher, die zu oft schon in zweiten Generation von Transferleistungen leben, die aus zerrütteten Familien oder Beziehungen kommen oder im Heim aufgewachsen sind. Die Betreuung ist aufwendiger geworden, sagen Petra Kuhlmann und Stephan Knorr. Und deshalb steht ihr Wunsch zum Jahresende auch fest: „Mehr als die sechs Stellen an Sozialarbeitern, die wir zurzeit haben. Wir könnten sie gut gebrauchen.“