Essen. Er ist verliebt in den Kompromiss, kann aber auch anders: Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen zieht Bilanz nach seinem ersten Amtsjahr.

Er ist verliebt in den Kompromiss, kann aber auch anders: Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen zieht Bilanz nach seinem ersten Amtsjahr.

Herr Kufen, „in Essen wird keiner zum Oberbürgermeister gewählt, der auf die Sahne haut“. Der Satz stammt von Ihnen. Wie hat denn das erste OB-Jahr so geschmeckt?

Thomas Kufen: Ich bin sehr zufrieden. Ich musste mich nicht groß verbiegen, und wer mich erlebt, merkt: Da ist jemand, der interessiert ist, der zuhören kann, der für diese Stadt brennt.

So weit Ihr Wahlkampf-Slogan. Ist das denn noch die gleiche Betriebstemperatur wie zu Beginn?

Kufen: Ich habe nicht den Eindruck, dass es Abnutzungs-Erscheinungen gäbe. Man sollte meinen Arbeitstag aber auch nicht auf zwei Facebook-Bilder verkürzen. Natürlich suche ich Begegnungen mit den Bürgern, zeige Flagge, aber es gibt auch sehr viele Stunden, zumal am Wochenende, wo der OB alleine am Schreibtisch im Rathaus sitzt. Oder nach einem langen Tag um 22 Uhr zuhause die Tasche mit Akten herausholt.

Keiner wird als OB geboren. Was machen Sie anders als Ihre Vorgänger?

Kufen: Ich überlege ja nicht, was Wolfgang Reiniger gemacht hätte oder Reinhard Paß – um dann abzuwägen, wie ich es richte. Ich bin mit Abstand der jüngste Oberbürgermeister und pflege etwa einen ganz anderen Umgang mit Kommunikation, mit sozialen Medien. Ich bin ein Ruhrgebietsjunge und stolz drauf. Das will ich mir schon erhalten, auch die Leichtigkeit, das Augenzwinkern.

Es gibt viele, die sagen: Hoffentlich verliert er dieses jugendlich Unbekümmerte nicht.

Kufen: Jugendlich unbekümmert finde ich gut, ich bin aber nicht naiv. Ich weiß: Wenn ein OB einen Satz sagt, muss der sitzen. Ich habe den Eindruck, dass ich meine Worte sehr gut wäge...

...und deshalb hier kein weiterer Spott über die Frisur Ihres Dortmunder Amts-Kollegen Herrn Sierau...

Kufen: ...(lacht) ich schätze den Kollegen sehr. Wir sagen jetzt Uli und Thomas, wir waren bei Rot-Weiss an der Hafenstraße, und demnächst gucken wir uns ein Spiel des BVB an. Dortmund hat eine ganz interessante wirtschaftliche Entwicklung genommen. Da gibt es vieles, von dem wir lernen können.

...hört, hört!...

"Die Zentralstadt des Ruhrgebiets ist Essen"

Kufen: ...aber die Zentralstadt des Ruhrgebiets ist nun mal Essen. Nicht, weil wir das so beschlossen haben, sondern weil wir mittendrin liegen. Dennoch, das ist ein gutes Miteinander.

Obwohl Sie Christdemokrat sind und er Genosse?

Kufen: Vielleicht gerade deshalb. Ich habe den Eindruck, dass bei unterschiedlichen Parteifarben manches leichter geht. Man sieht das in Mülheim. Nach nur knapp einem Jahr im Amt sind wir beim Nahverkehr so weit, wie uns das keiner zutraute.

Dabei hat das Asyl-Thema lange die Agenda beherrscht. Das ändert sich.

Kufen: Die Unterbringung haben wir im Griff. Jetzt kommt die viel größere Aufgabe, die Integration. Die müssen wir nicht nur bezahlen können, wir müssen auch dafür sorgen, dass unsere Stadt sich nicht auseinanderentwickelt: in Arm und Reich, in Zugewanderte und Einheimische, in die, die Arbeit haben, und die, die Arbeit suchen. Da liegt noch ein langer Weg vor uns.

Wenn Sie dennoch den einen oder anderen Fehler in der Flüchtlings-Politik einräumen wollten, wäre dies jetzt wohl der richtige Moment.

Kufen: Ich habe kein Problem damit, mich zu korrigieren, wenn wir irgendwo daneben gelegen haben. Das ist durchaus auch eine Stärke, die wir einbringen, die Arbeit der Verwaltung kritisch zu hinterfragen.

War nicht die Verknüpfung der Asylheime mit vielen Landschaftsschutzflächen so ein Fehler?

Kufen: Fehler und Stärke zugleich war, dass wir zu jeder Zeit transparent gemacht haben, was wir vorhaben. Wir wollten, wenn es dann hinterher zu Entscheidungen kommt, belegen: warum dort und nicht woanders?

"Ich habe das bei meinem Amtsantritt nun mal so vorgefunden"

Sie planten groß und teuer: Waren wir handlungsfähig, weil nicht auf die Kosten geschaut wurde? Stichwort: Essen, „Hauptstadt der Zelte“?

Kufen: Ich habe das bei meinem Amtsantritt nun mal so vorgefunden. Die Unterbringung in den Camps war auch lange Zeit richtig, wir hatten aber keine Exit-Strategie. Dabei war klar, dass zehn Zeltstandorte, wenn sie nicht zügig abgebaut werden, den Haushalt sprengen. Natürlich kann man sagen: Bei der nächsten Flüchtlingskrise machen wir alles besser. Wir haben uns nach bestem Wissen und Gewissen eingebracht. Augen zu und durch gibt’s mit mir nicht.

Brauchte es für die höhere Erkenntnis einer allzu umfangreichen Neubauplanung Essens Bürger Bündnis?

Kufen: Udo Bayer hat als erster ausgesprochen, was wir intern schon prüften. Das sei eingeräumt. Aber glauben Sie mir, auch wir können rechnen.

Womit wir beim Etat wären. Zumindest auf dem Papier ist der Etat 2017 im Lot, der Stärkungspakt hält.

Kufen: Ja, daran hängt alles in unserer Stadt, wir haben die Solidarität anderer Kommunen arg strapaziert. Wenn man sich die Sparerfolge der Kernverwaltung ansieht, fallen die wirklich phänomenal aus. Aber dieser Sparkurs hat Narben und Lücken hinterlassen. Wir sind in der Verwaltung an unsere Grenzen gekommen. Darum gibt es nun mehr Personal.

Sie sind ein Freund von Kompromissen. Bei Flüchtlingen wie Finanzen aber waren Sie gezwungen, Beschlüsse durchzusetzen, die auch Verlierer kennen.

Kufen: Auch da habe ich kein Problem damit einzuräumen, dass ich nicht zaubern kann – und dass ich kein Geld mitgebracht habe. Wir wollen gemeinsam Lösungen suchen, eine Führungskultur pflegen, Vorbilder sein. Ich gehe auf die Suche nach dem Konsens, aber wenn der nicht möglich ist, entscheide ich auch. Dann kann es sein, dass jemand seine Vorstellungen nicht durchsetzt. Das schreckt mich nicht. Ich bin in der Lage, unbequeme Entscheidungen durchzusetzen. Zu jeder Frage 100 Prozent Zustimmung zu bekommen, das wird’s nämlich nicht geben.

Wenn jemand so ins Gelingen verliebt ist wie Sie, sichert der seine Entscheidungen CDU-intern ab?

Kufen: Ich weiß, wie weit jede einzelne Fraktion in bestimmten Fragen gehen will und gehen kann. Da schau ich aber nicht nur auf die CDU.

Ist so gesehen die „GroKo“ im Rat für Sie ein Segen, weil sie das Feilschen um jede Stimme erspart?

Thomas Kufen: „Ich bin keiner, der zu jedem Problem sagt: ,Wir schaffen das!’“ 

Ist so gesehen die „GroKo“ im Rat für Sie ein Segen, weil sie das Feilschen um jede Stimme erspart?

Kufen: Ich finde, dass es dem Rat überhaupt gut ansteht, Mehrheiten zu suchen, die weit über SPD und CDU hinaus gehen. Und ich bin nicht der Oberbürgermeister der Großen Koalition. Ich habe eine große Koalition mit den Essenerinnen und Essenern.

Die könnten den Eindruck gewinnen, das größte Sicherheitsproblem der Stadt sei ein Häuflein Alkis vor dem Handelshof.

Kufen: Das ist ja nicht nur eine Frage von Sicherheit und Ordnung. Sondern auch diese: Geben wir am Willy-Brandt-Platz, am Eingangstor zu unserer Stadt, das richtige Bild ab? Meine Antwort ist: Nein. Mir ist schon bewusst, diese Menschen werden in Essen bleiben, aber sie müssen nicht an dieser Stelle bleiben.

Die Trinkerszene ist ein Beispiel dafür, dass man mit noch so gutem Willen nicht alles regeln kann. Sexuelle Übergriffe im Grugabad ein anderes. Sind Sie nicht letztlich hilflos?

Kufen: Nein, wir sind sehr wehrhaft. Wenn es etwa um die Übergriffe geht, kann ich nur sagen: Wir wissen, wer’s war! Und wir vertrauen auf den Rechtsstaat, dass die bestraft werden. Gleiches gilt für die Attentäter vom Sikh-Tempel. Natürlich muss man klar machen: Absolute Sicherheit gibt es nicht. Wir sind dennoch eine der sichersten Großstädte Deutschlands.

Was dem nichts nützt, der zu den Opfern zählt. Ärgern Sie sich als ehemaliger NRW-Integrationsbeauftragter darüber, dass ein paar Zuwanderer ein schiefes Bild mitprägen?

Kufen: Ja, mich ärgert das. Weil ich die Wut spüre, dass einige wenige, denen wir Sicherheit und Obdach gewähren, uns ausnutzen – bis hin zur Randale im Sozialamt. Aber auch da kann ich sagen: Wir sind nicht hilflos. Die betreffende Person ist – auch weil ich darauf ausgesprochen Wert gelegt habe – abgeschoben worden.

Klingt, als hätten Sie drauf gewartet, ein Exempel statuieren zu können.

Kufen: Ich warte nicht auf kriminelle Übergriffe, um den starken Mann zu markieren. Besser, es passiert gar nix.

"Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hat nicht den Stellenwert, den sie haben müsste"

Die weit überwiegende Mehrzahl der Zuwanderer ist friedlich, aber auf Sicht weiter fremd. Ist die Stadt bei der gewaltigen Aufgabe der Integration schon richtig aufgestellt?

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Von Gerd Niewerth und Martin Spletter

Kufen: Noch nicht. Das wird alles viel Geld kosten, aber wir laufen nicht weg vor den Problemen, das ist nicht unsere Art. Wobei ich daran erinnere: Man kann auch als Deutschstämmiger nicht integriert sein. Wenn ich mir etwa den hohen Anteil an Langzeitarbeitslosen anschaue oder der Kinder, die von Armut bedroht sind.

Im Rat klangen Sie, was das angeht, sehr sorgenvoll, fast deprimiert.

Kufen: Wir sind da auch schlecht aufgestellt. Ich bin keiner, der zu jeder Tages- und Nachtzeit zu jedem Problem sagt: „Wir schaffen das!“ Ich muss auch ganz selbstkritisch sagen: Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hat abgesehen von den Fachleuten auch in Essen längst nicht mehr den Stellenwert, den sie angesichts der Zahlen eigentlich haben müsste.

Weil diese Region sich damit abgefunden hat?

Kufen: Genau. Dazu bin ich aber nicht bereit. Das ist nicht mein Amtsverständnis, dass ich irgendeinen in dieser Stadt „abschreibe“.

Wenn es nicht „Wir schaffen das“ ist: Wie passt denn ihre Überzeugung in drei Wörter? „Wir versuchen das“?

Kufen: Nein, es ist in unserem eigenen Interesse, dass wir das hinbekommen...

...das waren mehr als drei...

Kufen: ...es kommen noch mehr: Dazu müssen alle mithelfen, und es gibt keine einfache Lösung. Die erste Voraussetzung dafür ist, dass wir unser Job-Center personell besser ausstatten. Wir müssen die Leute bezahlen und wichtiger noch: Wir müssen sie erst mal finden. Ich bin da sehr ernüchtert. Am Arbeitsmarkt können wir nicht aus dem Vollen schöpfen. Zumal andere Städte auch einstellen.

UmweltschutzWenn man solche Langfrist-Projekte angeht, braucht man auch Freuden über kurzfristige Erfolge. 2017 ist Essen „Grüne Hauptstadt Europas“ – mehr als ein Titel, der sich gut vermarkten lässt?

Kufen: Es ist vor allem erst mal eine Bestätigung dessen, was wir erreicht haben im Umbau der Stadt hin zu mehr Lebensqualität. Das ist ein zweiter Aha-Effekt Essens nach der Kulturhauptstadt 2010. Und zeigt einmal mehr, wie diese Region sich wandeln kann.

Welches Projekt ist Ihnen im ersten Amtsjahr nicht gelungen, worüber Sie sich sehr geärgert haben?

"Ich glaube, beim Thema Sauberkeit hätte ich nachlegen müssen"

Kufen: Ich glaube, beim Thema Sauberkeit hätte ich nachlegen müssen.

Sie glauben, da geht mehr?

Kufen: Das glaube ich in der Tat, allerdings sind wir mit der Vertragsverlängerung bei den Entsorgungsbetrieben in einer Situation, wo man schlecht über mehr Qualität zu noch günstigeren Konditionen reden kann.

Bei welchem Vorhaben waren Sie überrascht, dass es funktioniert hat?

Kufen: Beim Nahverkehr. Mit Mülheim hinzubekommen, dass wir eine gemeinsame Verkehrsgesellschaft erreichen wollen, das ist toll.

Und macht Appetit auf mehr?

Kufen: Es ist die Grundlage, mehr machen zu können. Bei der Gewerbeimmobilienmesse „Expo Real“ neulich in München präsentierte sich das Revier als „die größte Stadt Deutschlands“. Und eine solche Stadt braucht e i n e Verkehrsgesellschaft. An diesem Ziel arbeite ich weiter.

Gab es Momente, in denen Sie am Abend dasaßen und sich sagten: Was haste Dir denn da angetan?

Kufen: Das kommt schon mal vor, ja. Es macht eben nicht alles Spaß, was da bei mir auf dem Tisch landet: an Problemen, an Anfeindungen. Dennoch: Ich mache den Job unheimlich gerne, ich hoffe, die Bürgerinnen und Bürger merken das auch.

Aber die Begeisterung wird ihre Grenzen finden, wo Sie sich mit den Menschen anlegen. Etwa wenn es um Wohnbauflächen oder Platz für Gewerbe geht.

Das finde ich gar nicht so schlimm. Ich suche zwar keinen Streit, aber ich gehe auch keinem aus dem Weg.