Essen. . Zehn Jahre nach den Einschnitten in die Kirchenlandschaft prüfen die Katholiken erneut den Verzicht auf Gotteshäuser. Unter Gläubigen rumort es.
- Hoffnung auf wieder steigende Mitgliederzahlen erfüllten sich nicht, im Gegenteil
- Bis 2030 müssen die Pfarreien ihre Etats auf etwa die Hälfte abschmelzen
- Diskussion in den Gemeinden wird lauter – entschieden wird bis Ende 2017
Die alte Streichliste, sie ist noch nicht ganz abgearbeitet, da bastelt die katholische Kirche schon an einer neuen. Denn nichts hat sich grundlegend geändert, seit vor zehn Jahren der Bischof höchstpersönlich einem in eigenen Reihen lang gehegten frommen Selbstbetrug ein jähes Ende setzte: dass es mit der Zahl der Katholiken schon noch irgendwie mal wieder aufwärts gehen werde.
Tatsächlich schrumpft die Zahl der Katholiken im Bistum unaufhörlich weiter: 791.000 Gläubige waren es Ende 2015, davon 200.333 in Essen. Genug, um manche Kirche zu füllen, doch in Wahrheit liegt die Zahl der Teilnehmer am Gottesdienst im Bistumsschnitt bei nicht mal mehr neun Prozent.
Binnen vier Jahren soll der Etat um ein Drittel schrumpfen
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Schwindende Kirchensteuer-Mittel, ausbleibender Priester-Nachwuchs und mancher Skandal tun das Ihre dazu, um die Fragen von 2006 zur Zukunft der Katholischen Kirche erneut aufzuwerfen. Diesmal aber soll die Frage „Wie muss die Kirche von morgen aussehen?“ nicht „par ordre du mufti“, sondern im Gespräch mit allen Beteiligten geklärt werden. Ein Dialog, ein „Pfarreientwicklungsprozess“, wie es arg sperrig heißt, für den man sich bis Ende kommenden Jahres Zeit nimmt, der aber dennoch nicht ganz ohne Leitplanken auskommt.
Und die lauten: Bis zum Jahr 2020 müssen die Pfarreien, von denen es im Essener Stadtgebiet zehn an der Zahl gibt, sich darauf einrichten, mit etwa einem Drittel weniger Geld auszukommen. Bis 2030 soll es sogar die Hälfte weniger sein als bisher.
Neue Sorgen mischen sich mit den Nachwehen der ersten Rückzugswelle
Für Kenner der Materie ist schnell klar: Das geht nur, indem erneut Gotteshäuser als kostenaufwendigste Einrichtungen auf die Streichliste kommen. Und so hat in den Gemeinden erneut das „Kirchturmdenken“ eingesetzt, und je mehr Zeit ins Land geht, desto lauter wird’s: in Schönebeck etwa, wo St. Antonius Abbas die Abrissbirne droht, oder in Stoppenberg, wo St. Nikolaus gefährdet scheint.
Rückzug auf Raten
Zur Gründung 1958 zählte das Ruhrbistum rund 1,5 Millionen Katholiken, heute sind es nur etwas mehr als halb so viel.
Unter immensem Spardruck setzte Bischof Felix Genn 2006 einen drastischen Umbau durch: Er teilte das Bistum in 43 Großpfarreien und setzte 96 von 340 und damit jede vierte Kirche auf eine Streichliste.
26 von ihnen wurden abgerissen, vielerorts entstanden Neubauten. Für 16 Kirchen ist noch keine Lösung in Sicht.
Die Sorge vor dem neuerlichen Kirchen-Exodus aus den Stadtteilen, er mischt sich mit den Nachwehen der ersten Rückzugswelle: Gut zwei Dutzend katholische Kirchen in Essen wurden 2006 auf die Schließungsliste gesetzt, einige Bauten ließen sich in Neubauprojekte integrieren, wie etwa St. Peter im Nordviertel für die Katholische Schule für Pflegeberufe oder St. Martin in Rüttenscheid für ein Seniorenpflegeheim.
Dass der Bischof Voten korrigiert, ist „nicht vorgesehen“
Andernorts aber sorgen Zwischenvermietungen für einen eher laschen Kompromiss – und am Ende blieb schon in jedem dritten Fall nur der Abriss – so wie jetzt bei Maria Königin in Haarzopf oder St. Stephanus in Holsterhausen. Was dort weniger die Gläubigen auf die Palme bringt, als manchen Architekten, der schwindenden baulichen Qualität wegen.
Die jetzt in den Pfarreien laufenden Standort-Diskussionen mit Gremien und interessierten Laien sollen am Ende in ein „Votum“ münden, zu dem der Bischof noch seinen Segen geben muss. Doch anders als vor zehn Jahren mag der Hirte seine Schäfchen nicht aus der Verantwortung lassen: „Die Ablehnung eines gut begründeten Votums“, so heißt es, „ist (...) grundsätzlich nicht vorgesehen.“
Essens Pfarreien
Pfarrei (*) | Katholiken | Zur Messe |
St. Antonius, Frohnhausen (6) | 28.147 | 10,6 % |
St. Dionysius, Borbeck (7) | 19.576 | 9,6 % |
St. Gertrud, Stadtkern (8) | 16.322 | 14,2 % |
St. Johann Baptist, Altenessen (4) | 13.976 | 5,7 % |
St. Josef, Frintrop (4) | 17.840 | 10,0 % |
St. Josef, Ruhrhalbinsel (9) | 22.315 | 8,6 % |
St. Lambertus, Rellinghausen (5) | 20.405 | 6,7 % |
St. Laurentius, Steele (6) | 25.303 | 9,9 % |
St. Ludgerus, Werden (7) | 15.796 | 14,3 % |
St. Nikolaus, Stoppenberg (9) | 20.653 | 7,0 % |
Stadtdekanat | 200.333 | 9,6 % |
* in Klammern Zahl der Kirchenstandorte / Quelle: Bistum Essen Jahresstatistik 2015
Schönebeck bangt um Kirche St. Antonius Abbas
Die zehn Essener Pfarreien schrumpfen weiter und erneut rückt ein konfliktgeladenes Thema auf die Tagesordnung: die Schließung von Kirchen, möglicherweise sogar ihr Abriss. Ein Beispiel ist die Borbecker Großgemeinde St. Josef. „Es zeichnet sich ab, dass die Kirchen St. Antonius Abbas in Schönebeck und St. Paulus in Gerschede schließen müssen“, fasst Pfarrer Wolfgang Haberla den Stand des „Pfarrentwicklungsprozesses“ zusammen, der eine Kostenersparnis von 50 Prozent vorsieht.
Gemeindeversammlungen dienen nun dazu, die Kirchenbasis in Frintrop, Schönebeck, Gerschede und Bedingrade auf dem Laufenden zu halten. Die letzte am 9. Oktober in Schönebeck, so berichten Teilnehmer, sei emotionsgeladen und ungewöhnlich laut gewesen. „Mit einem solchen Bruch der Pfarrei in Frintrop gegen die ihr anvertraute Kirchengemeinde in Schönebeck hat niemand gerechnet“, sagt ein empörtes Mitglied der Gemeinde St. Antonius Abbas, das namentlich nicht genannt werden will.
Auch alternative Nutzungskonzepte müssten wirtschaftlich tragfähig sein
Es handele sich um eine „funktionsfähige Gemeinde“, die den das Ortsbild prägenden, weithin sichtbaren Sakralbau mit bald 120-jähriger Geschichte als ihren Mittelpunkt betrachtet. Immer noch gebe es Hunderte Menschen, die aktiv seien – von Jugend- und Messdiener gruppen bis zu Frauengemeinschaften, von Pfadfindern bis zu Seniorengruppen. Anstatt all das zu zerstören, seien „kreative Ideen“ gefragt, um den Kirchenbau und eine Begegnungsstätte für Schönebecker Bürger erhalten zu können.
Den Vorwurf, in der Pfarrei und im Bistum werde seit Monaten in Hinterzimmern gemauschelt, weisen die Offiziellen zurück. „Der Pfarreientwicklungsprozess ist völlig transparent“, sagt Ralf Oyen. Der Vorsitzende des Pfarrgemeinderats verweist auf Berichte in der Pfarrzeitung und Aushänge im Schaukasten, auf ein Hirtenwort und die Homepage der Pfarrei – nicht zu vergessen die fünf Arbeitsgruppen. Keinesfalls verfolge man das Ziel, sich aus Schönebeck zu verabschieden. Doch auch alternative Nutzungskonzepte, betont Oyen, müssten wirtschaftlich tragfähig sein.
Pfarrer Haberla (59), seit 1995 Seelsorger von St. Josef in Frintrop und seit 2008 Pfarrer der Großgemeinde, weiß, dass der Pfarreientwicklungsprozess eine „Mammutaufgabe“ darstellt. Er selbst sieht sich in der Rolle des „Moderators, Motivators und Trösters“. Zusammen mit Mitgliedern des Kirchenvorstands und des Pfarrgemeinderats bildet der Kirchenmann einen Lenkungskreis. „Die Gemeinde legt dem Bischof bis Ende 2017 das Votum vor.“ Franz-Josef Overbeck hatte den „Pfarreientwicklungsprozess“ vor bald zwei Jahren angestoßen: Eine richtungsweisende Debatte, die von der zentralen Frage geleitet wird, wie sich die Katholiken Kirche im Jahr 2030 vorstellen.
Ende des Schrumpfungsprozesses ist nicht in Sicht
Weniger Gläubige und Kirchenbesucher bedeuten weniger Personal und weniger Infrastruktur. Das war schon vor acht Jahren so, als die Großgemeinde St. Josef aus ursprünglich sechs Gemeinden zusammengefasst und dann zwei Kirchen (Hermann-Josef und Herz Jesu) abgerissen werden mussten.
Ein Ende des Schrumpfungsprozesses ist unterdessen nicht in Sicht. Zählte Groß-St.-Josef 2008 noch gut 20 000 Mitglieder, sind es in diesem Herbst nur noch 17 840. „Es gibt weniger Taufen als Sterbefälle, hinzu kommen die Kirchenaustritte“, sagt der Pfarrer. 108 Austritte waren es 2015 und 182 im Jahr davor.
CDU-Ratsherr Klaus Diekmann, selbst Schönebecker, kann den Kummer gut nachvollziehen: „Die Leute haben Angst, dass St. Antonius Abbas abgerissen wird und Schönebeck sein Zentrum verliert.“ Andererseits warnt er eindringlich davor, die Augen vor der Realität zu verschließen. „Wir müssen sparen.“
Großpfarrei St. Nikolaus muss sich von einer ihrer stadtprägenden Kirchen trennen
Auch im Essener Norden steht die schwierige Entscheidung an, welche Kirchengebäude in einigen Jahren aufgegeben werden, und auch hier laufen intensive Diskussionen in der Großpfarrei St. Nikolaus. Sie besteht aus drei Teil-Gemeinden, die in Frillendorf, Katernberg, Schonnebeck, Stoppenberg und Teilen von Kray zuhause sind. Die zu klärende Frage ist nicht nur fürs Gemeindeleben, sondern zudem städtebaulich hochbedeutend: Bleibt St. Joseph in Katernberg oder St. Nikolaus in Stoppenberg? Nur eine dieser beiden Großkirchen kann langfristig erhalten werden.
Wie kontrovers es dabei zugeht, lässt ein Blick auf die Webseite der Pfarrei erahnen, die den Debattenverlauf abbildet. Am 18. September wird verkündet: „Wir erhalten eine historische, große Kirche, die zur gemeinsamen Pfarrkirche umgestaltet wird: St. Joseph, Katernberg.“ Nur eine Woche später, am 24. September dann ein neuer Eintrag, der teilweise ein Rückzug ist. Man sei sich zwar in den Gremien der Pfarrei weiterhin einig, künftig nur noch eine Kirche zu unterhalten, aber: „Es gibt noch keine Festlegung auf eine bestimmte Kirche.“
Stoppenberger Nikolaus-Kirche: schönes Beispiel für Jugendstil-Sakralbau
Was auch immer entschieden wird, es wäre ein Verlust. Der Beschluss vom 18. September bedeutet das Aus für die denkmalgeschützte Stoppenberger Nikolaus-Kirche. Im Zweiten Weltkrieg weitgehend unzerstört, gilt sie als eines der schönsten Beispiele für den Jugendstil-Sakralbau, von dem sie auch in der Innenausstattung geprägt ist. Erbaut 1907, wurde sie bewusst an den Fuß des uralten Kirchenhügels gesetzt, der von der Stiftskirche aus dem Jahr 1073 gekrönt wird. Wie ganz Stoppenberg war auch St. Nikolaus stark von Bergsenkungen betroffen – mittlerweile steht sie zwölf Meter tiefer als am Tag ihrer Einweihung. Mehrfach wurde das Gebäude saniert.
Aber auch St. Joseph in Katernberg, respektvoll „Katernberger Dom“ genannt, ist eine beeindruckende Kirche. Im neugotischen Stil 1889 geweiht, mag sie kunsthistorisch nicht ganz die Klasse von St. Nikolaus haben. In Katernberg ist der gewaltige Kirchenbau aber prägend, und alte Katernberger Katholiken erinnern mit Wehmut daran, dass das Gebäude in den 1920er Jahren eine der größten Pfarreien Deutschlands beherbergte.
Am 30. Oktober noch Gemeindeversammlungen zum Thema
Zum weiteren Prozess teilte Pfarrer Norbert Linden auf Anfrage mit, dass sowohl in Katernberg wie in Stoppenberg am 30. Oktober noch Gemeindeversammlungen zum Thema anstünden. Danach stehe man den Essener Medien für Gespräche zur Verfügung.
Kurzfristig droht zwar keine Kirchen-Schließung. Wie ernst die Lage dennoch ist, mag noch ein Zitat von der St.-Nikolaus-Webseite belegen: „In Stoppenberg befinden wir uns in Kooperationsgesprächen mit der evangelischen Thomasgemeinde. Die Thomasgemeinde baut ihre Kirche um. Dabei sollen explizit für die katholische Gemeinde Räume entstehen. Lagerräume müssen ggf. zusätzlich geschaffen werden.“ Vom wunderschönen „Stoppenberger Vatikan“ in die Nebenräume der Protestanten – nichts verdeutlicht wohl mehr, wie Recht Bischof Franz-Josef Overbeck hat, als er zu Beginn des Umstrukturierungsprozesses das Zeitalter der „Volkskirche“ für die katholische Kirche im Bistum für beendet erklärte.
In Haarzopf und Holsterhausen fallen Kirchen
Noch in diesem Herbst soll die 2008 aufgegebene katholische Kirche St. Stephanus in Holsterhausen abgerissen werden. Die Abrissgenehmigung liegt vor. Das markante Gebäude mit dem auffälligen ovalen Kirchenschiff wurde Ende der 1920er-Jahre errichtet und nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg 1953 wieder aufgebaut. Der Abriss soll etwa zwei Monate dauern. Parallel laufen die Planungen für die Folgenutzung. Die Heimstatt-Engelbert-Stiftung, die vor vier Jahren vom Franz-Sales-Haus übernommen wurde, hatte das Grundstück gekauft und will dort nach dem Abriss der Kirche ab Mitte 2017 bauen. Was genau entsteht, ist noch unklar, es soll sich aber um eine soziale Nutzung wie Wohnen für Behinderte oder ein Haus für Bildungsangebote handeln.
Neue Kita entsteht in Haarzopf
Anfang 2017 soll die katholische Kirche St. Maria Königin am Neulengrund in Haarzopf abgerissen werden, die Ende 2012 aufgegeben worden war. Das Aus für die Kirche ist für die Gemeindemitglieder besonders schmerzhaft, weil sie sie durch finanzielle und praktische Hilfe 1961 selbst mit aufgebaut hatten. Auf dem ehemaligen Kirchengelände von St. Maria Königin sollen Eigenheime und ein Kita-Neubau mit einer zusätzlichen dritten Gruppe entstehen. Die Kita wird dann auch Kinder unter drei Jahren aufnehmen. Der Beginn der Arbeiten ist für Sommer 2017 vorgesehen, in rund anderthalb Jahren sollen die neuen Gebäude stehen.