Essen. . In Essen gibt es etwa 860 Wohnungslose, ausschließlich auf der Straße leben etwa zehn Personen. Wie der „Raum 58“ jungen Obdachlosen hilft.

  • Laut Statistik gibt es in Essen relativ konstant etwa 860 Wohnungslose
  • Etwa 160 obdachlose Jugendliche übernachten im Schnitt pro Jahr im Raum 58
  • Manche Betroffenen kennen die Hilfestrukturen, nehmen die Hilfe aber nicht an

Die aktuellste Zahl Essener Obdachloser in der Wohnungslosen-Statistik des Landessozialministeriums verharrt mit 860 Personen auf relativ hohem Niveau. Was unternimmt die Stadt Essen dagegen? Wo können Obdachlose in Essen übernachten? Und wie leben junge Obdachlose hier?

  • Ein Besuch bei jungen Obdachlosen im „Raum 58“
  • Das ist der „Raum 58“ (Seite 2)
  • Kurzinterview: Müssen Menschen in der heutigen Zeit noch auf der Straße leben? (Seite 3)
  • Wo Obdachlose in Essen wohnen und schlafen können (Seite 4)

Wer in der Wohnungslosen-Statistik nicht dazu zählt, sind Jugendliche unter 18 Jahren, die offiziell nicht ohne festen Wohnsitz sein dürfen. „Auch wenn es sie natürlich gibt, werden sie hier nicht mitgezählt, sondern nur junge Erwachsene“, erklärt Manuela Grötschel, Leiterin der Notschlafstelle für Jugendliche, dem „Raum 58“. Ein Besuch.

„Die bei uns ankommen, haben ihre Jugendamts-Karriere schon hinter sich“, sagt Manuela Grötschel. Soll heißen: Aus Jugendschutzstellen, Heimen, Wohngemeinschaften oder Pflegefamilien sind sie abgehauen oder rausgeflogen. Sie sind ohne festen Wohnsitz.

Jugendliche mit „Jugendamtskarrieren“

Drei Jungs und ein Mädchen sitzen an einem Augustabend im Raum 58. Es ist kurz nach 21 Uhr. Die Jugendlichen sind gerade angekommen. Die Zimmer und Dienste für das Abendessen sind verteilt. Es gibt Würstchen mit Kartoffelbrei. Alles ist friedlich. Aber man solle es nicht beschreien, meint Manuela Grötschel. „Ich habe schon ganz andere Abende erlebt.“ Dieser bleibt ruhig.

Was die Jugendlichen hierher gebracht hat, will nur einer erzählen. Seinen Namen möchte er aber nicht in der Zeitung lesen. Wir nennen ihn Tom. Der 19-Jährige ist einer dieser Jugendlichen, die ihre Jugendamtskarriere hinter sich haben. Tom erzählt episodenhaft aus seinem Leben. Aus seiner Sicht:

Seine Mutter bekommt Tom früh – mit 16. Zum Vater hat er bis auf eine kurze Zeit keinen Kontakt. Toms Jugend ist bestimmt durch ständige Umzüge. „Immer wenn meine Mutter einen neuen Freund hatte.“ Als Tom 13 Jahre alt ist, lebt er mit seiner Mutter in Bayern. Wieder ein neuer Partner – der schlägt Tom. Er kommt ins Heim in Garmisch-Partenkirchen. Da hat Tom Stress mit den Erziehern. Drei Mal nimmt er Reißaus. Die Mutter wechselt erneut den Partner. Tom, mittlerweile wieder zu Hause, kommt auch mit ihm nicht zurecht. Er setzt sich mit zwei Freunden nach Italien ab. Da ist er gerade 14.

Polizei erwischt Tom in Genua

Es sprudelt aus dem jungen Mann mit dem neugierigen Blick nur so heraus. Ein offener Typ, dem man seine Geschichte nicht ansieht oder -merkt. Teilweise fällt es schwer, ihm zu folgen. Zum einen, weil Tom nicht immer chronologisch erzählt. Zum anderen, weil es heute seine Aufgabe ist, dass das Essen auf den Tisch kommt – es fehlt der Ketchup.

„Nach drei Wochen hat uns die Polizei in Genua erwischt“, erzählt Tom weiter, als er mit dem Ketchup zurück kommt. „Wir wurden als vermisst gemeldet und gesucht.“ Er wird zurück nach Deutschland gebracht. Tom haut immer wieder von zu Hause ab.

In Mannheim wird er schließlich im Zuge eines Jugendprojekts der Arbeiterwohlfahrt nach Polen geschickt. Jugendliche, die keinen Schulabschluss schaffen, werden von Jugendämtern aus ganz Deutschland in polnischen Pflegefamilien untergebracht, um dort intensiv betreut zu werden – abseits von Stress und Ablenkungen hierzulande. „In der ersten Familie wurden wir nur ausgenutzt, der Vater wurde handgreiflich.“ Tom beschwert sich beim Jugendamt, wechselt die Familie. „Da war’s okay.“ Nach zwei Jahren kehrt er zurück, schafft in Baden-Württemberg den Hauptschulabschluss.

Im Raum 58 übernachten jährlich 160 obdachlose Jugendliche

Mit knapp 18 zieht Tom zu einer Freundin nach Herne und beginnt eine Berufsvorbereitung. Er will eine Ausbildung zum Kinderpfleger machen. Nach zwei Monaten fliegt er ‘raus. „Ich hatte mich bei meiner Freundin mit Krätze angesteckt. Und habe zu viel verpasst.“ Wenig später setzt sie ihn vor die Tür. „In der Zeit wurde ich auch vergewaltigt.“ Zur Polizei sei er nicht gegangen. „Ich kenn’ ja das System.“ Tom fängt an, Drogen zu nehmen. Einen folgenden Entzug bricht er ab. Tom sucht in Herne bei einem der Ex-Freunde seiner Mutter Unterschlupf, nimmt weiter Drogen.

„Irgendwann hat meine Patentante gemerkt, wie schlecht es mir geht und hat mich nach Griechenland geholt.“ Fuß fassen kann er auch da nicht. Tom nimmt erstmalig Kontakt zu seinem leiblichen Vater auf, geht zu ihm nach Berlin. „Das ging aber schnell auch nicht mehr gut.“ Tom kehrt zurück zu der Freundin nach Herne. „Aber da konnte ich auch nicht länger bleiben. Und jetzt bin ich hier.“

Im Raum 58 übernachten jährlich etwa 160 junge Obdachlose  

Etwa 160 obdachlose Jugendliche übernachten im Schnitt pro Jahr im Raum 58. Zwei Drittel davon sind Jungs. „Die Mädchen kommen noch häufiger irgendwo unter. Bei Verwandten oder älteren Freunden. Da setzt der Beschützer-Instinkt ein“, sagt Manuela Grötschel. „Und Heime halten Mädchen, die sich daneben benehmen, oft länger aus als Jungs.“ Die Mädchen, die dann aber im Raum 58 landen, seien oft sehr auffällig.

Die Notschlafstelle bietet jede Nacht acht Schlafmöglichkeiten. 2015 war der Raum 58 zu 100 Prozent ausgelastet. Die Kosten werden zu 60 Prozent von der Kommune und zu 40 Prozent durch Spendengelder getragen, so Grötschel. „Ohne die Spenden wäre es zum Beispiel nicht möglich, dass wir auch samstags auf haben.“

Bis zur vierten Nacht können die Jugendlichen im Raum 58 anonym bleiben. „Wenn sie das erste Mal abends bei uns ankommen, müssen sie nur ihren Spitznamen und ihr Alter sagen und kurz ihre Situation schildern“, erklärt Manuela Grötschel. Außerdem werden die Taschen kontrolliert. Alkohol und Drogen sind in der Einrichtung tabu – „etwa 80 Prozent der Jugendlichen konsumieren“, schätzt die Leiterin.

Das Angebot des Raums 58 ist niederschwellig und zielt darauf ab, den Jugendlichen so viel Selbstständigkeit und Recht auf Mitbestimmung zu geben wie möglich. „Sie möchten autonom leben und wenn überhaupt möglichst lockere Bindungen eingehen. Sie brauchen ein gutes, aber kein enges Beziehungsangebot“, so Grötschel.

Der Raum 58 liegt an der Kastanienallee 58. Täglich ab 21 Uhr können Jugendliche dort ihre Zimmer für eine Nacht beziehen. Um Mitternacht ist Aufnahmestopp. Bis dahin werden die Betten der Ankunft nach verteilt. Wobei unter 18-Jährige Vorrang haben. Falls Minderjährige kommen, nachdem schon alle Betten belegt sind, müssen die Volljährigen losen, wer sein Bett wieder abgeben muss. In diesem Fall und wenn mehr kommen, als es Betten gibt, werden andere Schlafplätze vermittelt. Wenn nötig auch in benachbarten Städten. Der Raum 58 hält mit den Jugendlichen, die oft kommen, Treffen ab, in denen sie Probleme ansprechen und Wünsche äußern können. Es werden auch gemeinsame Aktivitäten geplant und durchgeführt.

Städtische Wohnungsnotfallprävention: Nicht alle Obdachlosen wollen Hilfe 

Müssen Menschen in der heutigen Zeit noch auf der Straße leben?

Thomas Römer: Bisher konnten Personen, die den Willen zur Änderung ihrer Lebenssituation hatten, durch Eigeninitiative, durch Unterstützung der Wohnungsvermittlungsagentur oder mit Hilfe der Sozialpädagogen der begleitenden Wohnhilfen innerhalb von drei Monaten in mietvertraglich abgesicherten Wohnraum gebracht werden. Dennoch gibt es auch hier in Essen immer wieder Personen, die die Hilfestrukturen zwar kennen, aber aus unterschiedlichen Gründen für sich die Entscheidung treffen, diese Hilfe nicht anzunehmen.

Die leben dann durchgehend auf der Straße?

Thomas Römer von der Wohnungsnotfallprävention der Stadt Essen.
Thomas Römer von der Wohnungsnotfallprävention der Stadt Essen. © WAZ FotoPool

Römer: Es sind etwa zehn Personen, die tatsächlich nur auf der Straße leben. Sie kommen dann ausschließlich im Winter in die Notschlafstelle an der Lichtstraße. In solchen Fällen hält die Beratungsstelle für Wohnungslose laufend Kontakt, um bei auftretenden Problemen dennoch immer wieder Hilfen anbieten zu können.

Welche Summe gibt die Stadt Essen pro Jahr für Hilfeleistungen aus?

Römer: Für das Hilfesystem innerhalb der Stadt mit den niederschwelligen Tagesaufenthalten, verschiedenen Beratungsstellen, der Betreuung in der Obdachlosenunterkunft, dem Integrationsangebot in der Suchthilfe, den Betreuungsangebote in den unterschiedlichen besonderen Wohnformen und den ambulanten Betreuungen werden jährlich etwa 2,3 Millionen Euro aufgewendet.

Ausbau der Obdachlosenunterkunft, Notschlafstelle 2016 nie ausgelastet 

Essen unterhält eine Obdachlosenunterkunft. Die Unterbringung an der Liebrechtstraße in Überruhr werde derzeit Zug um Zug neugebaut, so Thomas Römer von der Wohnungsnotfallprävention. In der Unterkunft stehen aktuell 60 Plätze mit sozialpädagogischer Betreuung zur Verfügung. Es sind nicht alle Plätze belegt. „Nach Fertigstellung aller Neubauten werden wieder 120 Plätze zur Verfügung stehen“, sagt Thomas Römer.

Zum reinen Übernachten steht die Notschlafstelle Lichtstraße (Westviertel) zur Verfügung, die im „Normalbetrieb“ Platz für 50 Männer und acht Frauen bietet. Bisher sei die Notschlafstelle an keinem Tag im Jahr 2016 voll ausgelastet gewesen. Hinzu kommt für zwölf weitere Personen, acht Männer und vier Frauen die Möglichkeit, im Integrationsangebot der Suchthilfe zu übernachten.

Die „Maxstraße 71“ bietet den Essener Wohnungslosen die Möglichkeit einer Postanschrift. Dort hin können sie sich Unterlagen vom Amt schicken lassen. Zudem dienen die so entstehenden Zahlen an Obdachlosen als Indiz für Wohnungslosigkeit in Essen, sagt Römer. „Die Fluktuation ist hier jedoch enorm. So vielschichtig, wie die Problemlagen der Menschen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten sind, so unterschiedlich kann auch Ihre Motivation sein, Beratungsstellen, Tagesangebote und Notschlafstellen aufzusuchen. Nicht immer ist Wohnungslosigkeit dafür ursächlich.“