Essen. Obdachlose Kinder und Jugendliche finden in der Notschlafstelle „Raum_58“ nicht nur ein Bett zum Schlafen, sondern auch Gemeinschaft.

Auf der Kastanienallee 58. Ein Flachdachbau mit Fenstern und einer Tür, an der ein Schild „Raum_58“ hängt. Es ist 21 Uhr und es regnet. Pablo* klingelt. Manuela Grötschel öffnet ihm die Tür und beide gehen in ihr Büro, um seine Hosen- und Jackentaschen zu kontrollieren. Das ist ein Ritual im „Raum_58“ — der Notschlafstelle für obdachlose Kinder und Jugendliche in Essen.

„Wir stellen so sicher, dass die Kinder und Jugendlichen keine Gegenstände mitbringen, mit denen sie sich gegenseitig verletzen könnten“, sagt Manuela Grötschel. Bei Pablo dauert das nicht lange. Danach zieht er seine Jacke aus, macht es sich auf dem Sofa bequem und guckt sich im Fernsehen „Die Simpsons“ an. In der Zwischenzeit besprechen Manuela Grötschel und Linda Schlicht, was ihre Kollegen in der letzten Nacht erlebt haben und was wichtig an diesem Abend ist. Dann wird gekocht, denn das gehört auch zu den Ritualen, die im „Raum_58“ seit dem Jahr 2001 gepflegt werden. Es klingelt wieder. Jasmin kommt herein. Sie hat Angst vor Hunden und zuckt zusammen, als sie Manuela Grötschels Berger-Picard-Mischlingshund Smutje sieht, der immer mit dabei ist. Es hilft nichts, auch sie muss ihre Handtasche kontrollieren lassen. Es ist alles in Ordnung und sie setzt sich zu Pablo auf das Sofa. An diesem Abend kommen noch zwei weitere Jugendliche.

Kontakt zu Familien abgebrochen

Es gibt immer mehr Kinder und Jugendliche, die auf der Straße leben. Genaue Zahlen gibt es aufgrund fehlender Statistiken nicht, doch Schätzungen von Jugendhilfe-Kontaktstellen nach sind es zwischen 20.000 und 22.000 Kinder und Jugendliche.

Sie haben ähnliche Biografien und Beeinträchtigungen: Viele von ihnen sind in Familien aufgewachsen, in denen Gewalt, Drogen und Vernachlässigung die Regel waren.

Wenn man in diesem Alter solche Erfahrungen macht, geht das häufig mit einem posttraumatischen Belastungssyndrom einher. Die meisten Jugendlichen brechen dann den Kontakt zu ihrer Familie ab. „Das würde seltener passieren, wenn ein Jugendlicher wenigstens eine Person hätte, die sich kümmern, Problemlösungen anbieten und ihm eine positive Rückmeldung geben würde“, sagt Cordula Lasner-Tietze vom Deutschen Kinderschutzbund. Ist das Zusammenleben in der Familie nicht mehr möglich, ist der Weg in eine Jugendhilfeeinrichtung unumgänglich.

Wecken um 8 Uhr und gemeinsames Frühstück

Selbst auf diesem Weg kann ein Jugendlicher scheitern, weil seine speziellen Probleme nicht erkannt und sein auffälliges Verhalten als Regelverstoß geahndet werden. Je öfter das passiert, desto wahrscheinlicher ist es, auch aus dieser Einrichtung ausgeschlossen zu werden. „Ich war gezwungen, von Zuhause wegzugehen, weil ich dort richtig Krach hatte. Seit ich zehn Jahre alt bin, lebe ich in Wohngruppen. Dort bin ich auch nicht klar gekommen und musste gehen“, sagt Pablo. Er hatte Stress mit dem Jugendamt, in den Wohngruppen und so kam er irgendwann zum „Raum_58“ und fühlt sich dort wohl, weil die Mitarbeiter hier nicht übertriebene Vorstellungen haben, was sein Verhalten angeht.

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Dem Team geht es darum, mit den Jugendlichen ein Stück Alltag zu leben und eine freundschaftliche Ebene zu finden. Man isst zusammen, guckt Fernsehen, spielt Gesellschaftsspiele oder wäscht zwischendurch Wäsche. Spätestens um 1 Uhr wird geschlafen, denn am Morgen werden alle um 8 Uhr das erste Mal und Schlafmützen auch noch ein zweites Mal geweckt. Beim dritten Mal ist Schluss, und wer dann nicht aufsteht, handelt sich einen Rüffel ein. Schließlich sollen alle zusammen frühstücken. Später schließt die Einrichtung, doch dann gibt es Tagesangebote für die Jugendlichen.

"Die Logik der Straße"

Doch es läuft häufiger nicht rund für die Jugendlichen. Durch das Erlebte ist das Vertrauen erschüttert und Hilflosigkeit macht sich breit.

Linda Schlicht (23) und Leiterin Manuela Grötschel (43) besprechen in der Küche den Ablauf des Abends und der Nacht.
Linda Schlicht (23) und Leiterin Manuela Grötschel (43) besprechen in der Küche den Ablauf des Abends und der Nacht. © Lars Heidrich

Doch auch andere Dinge machen ihnen zu schaffen: Geld ist sehr knapp bis nicht vorhanden, so dass einige schon mehrmals schwarz gefahren und gefasst worden sind. „Ich bin schon etliche Male erwischt worden und habe Sozialstunden vom Gericht aufgebrummt bekommen. Aber was soll ich machen? Wenn ich einen Termin habe, muss ich irgendwie dahin kommen“ entgegnet Pablo auf die Frage, warum er Ärger mit dem Gericht hatte. Manche von ihnen haben auch geklaut.

„Das ist die Logik der Straße“, sagt Grötschel, und erklärt, dass einige dieser Straftaten vermieden werden könnten, wenn der Status der Jugendlichen eindeutig geklärt wäre. Das ist er aber nicht. Pablo hat an der Straßenkinder Konferenz in Berlin teilgenommen und dort die Probleme von einem Leben auf der Straße geschildert. Bis jetzt sich nicht viel Wesentliches verändert.

"Reelle Chance" durch psychologische Hilfe

Die Eltern sind grundsätzlich unterhaltspflichtig. Doch das ist schwierig zu regeln, wenn der Kontakt abgebrochen ist. Die Jugendlichen haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Wenn die Jugendlichen von sich aus Hilfe annehmen wollen, dann steht das Team vom „Raum_58“ mit Rat und Tat zur Seite.

Das Wichtigste ist, dass die Jugendlichen unmittelbar nach ihren traumatischen Erlebnissen psychologische Hilfe und Pädagogen mit einer Fachausbildung in dieser Richtung an ihrer Seite haben. „Dann haben sie eine reelle Chance“, so Lassner-Tietze, „das Erlebte zu verarbeiten und einen normalen Lebensweg zu einzuschlagen“

* Namen der Jugendlichen sind von der Redaktion geändert