Essen. Der Klartext-Verlag entstand in der Essener Gegenkultur, hat dann das Revier miterfunden. Nach 3500 Büchern gab Gründer Ludger Claßen die Leitung ab.
Ludger Claßen nicht mehr Geschäftsführer des Klartext-Verlags: Es war eine echte Zäsur, die da vor einem Monat verkündet werden musste. Der 63-Jährige ist nicht nur ein Urgestein der Buchverlagsszene des Ruhrgebiets, einer, der maßgeblich die Region als publizistisches Thema mitentdeckt hat. Der Werdener Junge wurzelt auch tief in der alternativen Szene in Essen, aus der schließlich der Klartext-Verlag hervorging, ohne dass dies am Anfang so beabsichtigt gewesen wäre.
Essen und das Ruhrgebiet gehörten Ende der 1970er Jahre nicht gerade zu den Zentren der ökosozialistischen Protestkultur, die dann in den Grünen ihre aufstrebende Partei fand. Zumindest an der Oberfläche war hier noch vieles so wie immer. Die SPD-Alleinherrschaft stand auf dem Zenit, Gewerkschaften und SPD-nahe Sozialverbände beackerten das politische Vorfeld. Montan- und Energiekonzerne galten zwar mitunter als Klassenfeinde, waren weit öfter aber Partner, die mit dafür sorgten, dass Ruhe im Karton war. „Kaum einer hatte Interesse, diesen Filz zu lichten“, sagt Claßen, der später eine wütende Satire über den baulichen Zustand seiner Heimatstadt, über Beton-Verbrauch und Abrisswut verfasst hat.
"Texte, die klar auf Missstände hinwiesen"
Die Ruhrgebietszeitungen waren für den jungen Claßen Teil des Problems. „Die WAZ fuhr damals einen Schmusekurs mit der SPD, Themen wie Wohnungsnot etwa fanden kaum statt.“ Der gelernte Lehrer, der sich mit Lehraufträgen und Zeitverträgen an der Essener Uni über Wasser hielt, gründete mit anderen die Zeitschrift „Standorte“, die zwei Jahre lang einmal monatlich mit wenigen Anzeigen und nach dem Prinzip Selbstausbeutung erschien.
Infos gab’s von den jungen Grünen, aber auch von SPD-Linken wie dem späteren SPD-Chef Detlef Samland, denen die Malocher-SPD zu konservativ war. Bereits zuvor war im Essener DKP-Milieu, dem der „Sponti“ Claßen eher fernstand, ein ähnliches Blatt mit Namen „Klartext“ gegründet worden und rasch wieder eingegangen. „Den Namen fand ich aber gut, weil er aussagte, was wir wollten: Texte, die klar auf Missstände hinwiesen.“
Neuer Forschungstrend: "oral history"
Eine Zeitung aufzubauen, und sei es nur als Monatsblatt, war in der vordigitalen Zeit technisch aufwendig und kaufmännisch ein großes Risiko. Auch die „Standorte“ hielten nicht durch. So ging Claßens publizistischer Ehrgeiz bald in eine andere Richtung. Als 1983 der Historiker Hermann Bogdal einen Verleger suchte für seinen Stoff über die Arbeiterbewegung in Recklinghausen, entschlossen sich Claßen und einige Mitstreiter „Klartext“ als Buchverlag zu gründen.
„Rote Fahnen im Vest“ hieß dieses erste Buch, und damit war ein wichtiges künftiges Standbein des Verlags bereits klar: die Geschichtskultur des Ruhrgebiets, unter Einschluss der NS-Zeit, deren regionale Erforschung erst in den Anfängen steckte – auch zulasten noch lebender Zeitgenossen. Claßen kam ein damals neuer Forschungstrend zupass, der besonders im Ruhrgebiet Anhänger fand: die „oral history“, die sich nicht nur auf schriftliche Quellen verließ und auch Menschen zu Wort kommen ließ. Der Essener Stadthistoriker Ernst Schmidt etwa schrieb bei Klartext.
Rechtsstreit brachte Publicity
Der zweite Mega-Trend: das Regionale. Klartext hatte viele Bücher übers Ruhrgebiet im Programm genau zum Zeitpunkt, als die Industriekultur Anfang der 1990er Jahre ein großes, auch touristisch interessantes Thema zu werden begann. „Allein das Buch ,Im Tal der Könige’ haben wir 40.000 Mal verkauft – es war der erste echte Reiseführer übers Ruhrgebiet.“ Trends erkennen und verstärken - nach diesem Muster hat Claßen dann auch mit Büchern über den Revier-Fußball gutes Geld verdient, die Portion Nostalgie war immer dabei.
Das Sprüche-Buch „So werde ich Heribert Faßbender“ brachte bundesweit Publicity, weil sich der TV-Sportreporter juristisch gegen die Satire zur Wehr setzte, was letztlich nützlich war. Überregional setzte Klartext aber auch betont seriöse Akzente, etwa mit Büchern über den Ersten Weltkrieg und die NS-Zeit, die Standardwerke wurden.
Erfolgsmodell soll erhalten bleiben
Die richtige Mischung aus Ambition und Kommerz wurde zum Erfolgsmodell. „Wären wir bei den Themen der Gegenkultur stehen geblieben, gäbe es uns nicht mehr.“ In den 1990er Jahren war Klartext dann zeitweise so erfolgreich, „dass wir aus schlechtem Gewissen heraus Bombengehälter gezahlt haben“, erinnert er sich. „Später musste ich dann feststellen, dass auch Rücklagen wichtig sind“, ironisiert Claßen diese Episode.
Ende der 1990er Jahre begann – durchaus auf Augenhöhe – die Kooperation mit dem alten „Feind“, der heutigen Funke- damals WAZ-Mediengruppe. „Unser erstes gemeinsames Buch waren 1997 Ruhrgebiets-Ausflugstipps, die zuvor von Lesern vorgeschlagen und in der Zeitung gedruckt worden waren. Das Buch schlug ein und hat sich unglaublich gut verkauft.“ Es war der Beginn einer langen Zusammenarbeit, die 2007 darin mündete, dass Claßen Klartext an Funke verkaufte. „Ich musste nicht, aber ich wollte die Zukunft von Klartext auf jeden Fall sichern“, sagt er.
Die Gesundheit zwang Ludger Claßen nun zum Rückzug – nach immerhin rund 3500 Büchern. Aber er wird, das ist fest verabredet, einzelne Buchprojekte weiter betreuen. Und das Klartext-Erfolgsmodell, das versteht sich, soll ebenfalls erhalten bleiben.