Essen. Robert Welzel erzählt in seinem neuen Buch die Geschichte des Wohnens und der Architektur in Essen. Ein schönes Stück Heimatkunde.
Wohnen in Essen, das bedeutete über Jahrhunderte vor allem dies: drangvolle Enge. Im Jahr 1911 lebten fast 300.000 Essener in gerade 16.000 Wohngebäuden, viele davon winzig, manche abbruchreif. Heute gibt es doppelt soviele Einwohner, aber sechs Mal soviele Wohnhäuser, die zudem meist weit großzügiger geschnitten sind und komfortabler sowieso. „Die Bedingungen damals würden uns heute als unerträglich erscheinen“, schreibt Robert Welzel in seinem neuen Buch, das von der Geschichte des Wohnens in Essen handelt. Wer dieses Buch gelesen hat, wird der „guten, alten Zeit“ jedenfalls mit Misstrauen begegnen, zumindest wenn es ums Wohnen geht.
Das heißt nicht, dass die alte Stadt Essen keinen Charme besessen hätte. Und ein Altbau, der vor 100 Jahre überbelegt und hygienisch katastrophal war, kann heute selbstverständlich ein Schmuckstück sein. Voraussetzung ist natürlich, dass das Gebäude die diversen kriegsbedingten und städtebaulichen Umwälzungen überlebte, die in Essen immer noch ein bisschen radikaler ausfielen als in den meisten vergleichbaren Städten.
Wie sich gesellschaftliche Trends in der Architektur wiederfanden
Wie die Stadt wurde, was sie ist und vor allem warum, beschreibt Welzel in 73 kleinen, interessanten Kapiteln, jeweils aufgehängt an einem ganz bestimmten, exemplarisch ausgewähltem Haus, die der Autor quer durchs Stadtgebiet fand. Es geht um Ästhetik, aber auch um Moden und gesellschaftliche Großtrends und wie sie sich in der Architektur der jeweiligen Epoche niederschlugen. Die Themen-Palette reicht dabei von der Großbürgervilla bis zur Toilettenfrage in Arbeiterbehausungen, von den Relikten landwirtschaftlicher Höfe bis zur Philosophie des Hochhauses, von der Stuck-Orgie bis zur allerschlichtesten Backstein-Optik, vom exakt geplanten Reformbau-Viertel bis zum finsteren Billig-Block, der vor allem die Investoren reich machen sollte. Die Essener „Häuserkönige“ waren nicht selten alteingesessene Bürger oder Nachfahren von Großbauern, denen das Erbe Ländereien beschert hatte, die unter den Bedingungen einer rasant wachsenden Stadt plötzlich wertvoll wurden.
Selbst Essen-Kenner brauchen bei manchem alten Foto Phantasie, um sich zurechtzufinden. Dass die Innenstadt bis zum Zweiten Weltkrieg durchsetzt war mit uralten Gassen mit Fachwerk- und Schiefer-Häuschen, dass das Südviertel mit schweren Stuck-Fassaden à la Berlin nur so prunkte, all das wirkt heute fast unwirklich.
Es geht auch um die Menschen, die in den Häusern lebten
Wo es passt und nachweisbar ist, liefert Welzel zu Geschichte und Besonderheit des Gebäudes auch die Geschichten der Menschen, die in ihnen lebten. In alten Häuserakten, die er im Stadtarchiv für seine Bücher einsah, steckte oft weit mehr als nur die Baugeschichte. Dokumentiert sind zum Beispiel Konflikte aller Art, bei denen die Stadtverwaltung eingreifen musste, und die Details des Lebens im alten Essen aufscheinen lassen, die sonst nirgendwo festgehalten wurden.
Welzel, im Hauptberuf Mitarbeiter im Kulturamt, ist sicher der beste Kenner der Essener Wohn- und Architekturgeschichte, aber er ist kein Nostalgiker, der dauernd über untergegangene Welten klagen würde. Die meisten Häuser, über die er berichtet, gibt es noch. Und ohnehin steckt auch hinter grauen und hässlichen Fassaden nicht selten eine hochinteressante Geschichte.
Alles in allem: Hier gibt’s ein schönes Stück Heimatkunde, das alles andere als platt oder unwissenschaftlich daherkommt. Oftmals wünscht man sich noch mehr Informationen, die wohl aus Platzgründen unter den Tisch fielen. Wenn es also etwas zu kritisieren gäbe, dann eigentlich nur, dass dieses Buch ein großzügigeres Format verdient hätte. Viele der sorgfältig ausgewählten Fotos etwa sind einfach zu klein. Dafür ist der Preis günstig, sicher auch, weil die Geno-Bank erneut bei einem Buchprojekt als Sponsor half.
Robert Welzel: Essener Streifzüge - von Haus zu Haus durch neun Jahrhunderte, 192 Seiten, viele Bilder Klartext-Verlag, Euro 9,95.