Essen. Stadt und Politik wehren sich gegen den Vorwurf aus Reihen des Essener Bürger Bündnisses und der FDP, die Stadt schaffe für viel Geld enorme Überkapazitäten.
- FDP und Bürgerbündnis kritisieren: Stadt schaffe Überkapazitäten für Asylbewerber
- Dezernent Renzel sieht nicht das behauptete Einsparpotenzial von 50 Millionen Euro
- SPD, CDU, Linke und Grüne warnen davor, zukünftigen Zuzug zu unterschätzen
Den Essener Weg aus der Flüchtlingskrise weist neuerdings eine Datei von gerade mal 75 Kilobyte Größe und einem sperrigen Namen: „Zeit-Kapazitätsplan“.
Es ist eine Tabelle mit 24 Spalten und 94 Zeilen und Zahlen so klein, dass mancher sie am Computer größer fahren muss, um sie überhaupt erkennen zu können. Udo Bayer, Brillenträger und Fraktionschef des Essener Bürger Bündnisses (EBB), hat das getan und unter all den Asyl-Standorten und Belegungs-Zahlen in der letzten Zeile dann noch etwas entdeckt, das ihm seither keine Ruhe lässt: „Dieses fortgeschriebene Konzept“, glaubt der 69-Jährige, „beinhaltet erhebliche Überkapazitäten.“
Essen und seine Flüchtlinge: Macht die Stadt, die über Monate hinter der Krise her plante, die zehn Zeltdörfer errichten musste und heute noch Zuweisungen aus dem vergangenen Jahr abstottert, plötzlich zu viel des Guten? Vom gigantischen 180-Millionen-Euro-Investment in Sachen Asyl ließen sich rund 50 Millionen Euro einsparen, glaubt Bayer und empfiehlt den geordneten Rückzug von alten Plänen.
Alte Schulstandorte wieder nutzen
Dazu aber wird es wohl nicht kommen, denn an seiner Seite weiß er erst einmal nur die FDP. Alle anderen halten Bayers Rechnung für falsch, in vorderster Front Sozialdezernent Peter Renzel: „Wir fabrizieren keine Überkapazitäten“, betont der, denn erstens seien die Grundannahmen allesamt realistisch, zweitens weise die Tabelle erst ab Frühjahr 2017 rechnerisch eine Handvoll mehr Plätze als unterzubringende Flüchtlinge auf, und drittens habe Bayer womöglich den grün eingefärbten Mittelteil der Tabelle übersprungen: Dort ist aufgeführt, welche Asylunterkünfte man werde aufgeben können, wenn denn die bisherigen Prognosen eintreffen.
Die beiden angemieteten Hotels in der Hache- und der Rubensstraße sind genauso darunter wie das Bildungshotel an der Karolinger Straße, ein Gasthaus am Pramenweg ebenso wie das Berufsförderungswerk Bau an der Lüschershofstraße. Und nicht zu vergessen: Jene sechs Behelfseinrichtungen, die man vorzugsweise an aufgegebenen Schulstandorten errichtet und bei denen der Rat schon beschlossen hat: Sobald möglich, werden diese Behelfs-Asyle aufgegeben. „Das wird schon deshalb immer wichtiger“, sagt Renzel, „weil wir diese wohl wieder als Schulstandorte brauchen.“
Eine Chance, "vor die Krise" zu kommen
Wenn man aber die genannten elf Standorte mit 1186 Plätzen räumt, bleibt unterm Strich nur ein Puffer von gerade mal 132 Plätzen. Das war, dies nur zur Erinnerung, bis vor kurzem die Zahl der Neuankömmlinge binnen vier Tagen.
Bayer hält dem entgegen, es spreche alles dafür, dass der Scheitelpunkt der Bugwelle an Flüchtlingen erreicht sei, dass es fortan abwärts geht. Und er erinnert daran, dass Essen auch bei der Flüchtlingswelle in den 1990er Jahren den geordneten Rückzug antrat: Von einst 45 Asyl-Standorten blieben am Ende nur sieben übrig.
Doch SPD und CDU, Grüne oder Linke warnen davor, die Flüchtlingskrise von damals mit der von heute zu vergleichen und eine weitere massive Zuwanderung voreilig abzuhaken. Auch Sozialdezernent Renzel gibt zu bedenken, dass es immer das Ziel gewesen sei, „vor die Krise“ zu kommen, also nicht den Flüchtlingszahlen hinterherzuplanen: „Diese Chance ist jetzt da.“
Was andere Politiker zum geforderten Kurswechsel sagen und wo die Stadt Essen Flüchtlinge aktuell unterbringt, lesen Sie auf Seite 2 und 3 dieses Artikels:
Muss die Stadt Essen den Kurs ändern? Das sagen Politiker
Das sagen Sozialdezernent Peter Renzel und Politiker der anderen Fraktionen.
Peter Renzel, Sozialdezernent: „Wir fabrizieren keine Überkapazitäten. Auf der Grundlage unserer Annahme, dass kommendes Jahr rund 500.000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen, haben wir Ende 2017 einen Puffer von 132 Plätzen. Wir sollten nicht den Fehler machen, den zu riskieren.“
Udo Bayer, Bürger Bündnis EBB: „Das fortgeschriebene Konzept beinhaltet ausgehend vom Status Quo erhebliche Überkapazitäten und bindet investive Mittel. Das können wir uns überhaupt nicht leisten. Es wäre richtig, wenn wir einiges zurücknähmen, reduzieren und flexibler halten.“
Dirk Kalweit, CDU: „Ob wir wirklich die Scheitelwelle des Zuzugs erreicht haben, wissen wir alle nicht. Mir ist eine Diskussion darüber, dass wir zu viel Plätze haben lieber, als dass wir der Entwicklung wieder hinterherlaufen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sage ich: Wir brauchen die Plätze.“
Karlheinz Endruschat, SPD: „Ich kann mich gut daran erinnern, wie wir im Rat geprügelt wurden, weil wir angeblich der Welle hinterher schwammen. Jetzt sind wir zum ersten Mal vor der Welle, was die Unterbringung angeht, und können die Zukunft planen. Und deshalb ist dieser Kurs goldrichtig.“
Christine Müller-Hechfellner, Grüne: „Herr Bayer weiß nicht, wie die Flüchtlingszahlen sich entwickeln, und ich weiß es auch nicht. Millionen, gerade in Afrika sitzen auf gepackten Koffern, und selbst wenn die nicht hier ankommen: Einige der alten Unterkünfte sind völlig marode und müssen eh vom Netz.“
Gabriele Giesecke, Linke: „Wir sind noch lange nicht am Krausen Bäumchen. Ich sehe überhaupt keinen Raum, Kapazitäten zu verringern. Eher sollten wir darüber nachdenken, an bereits beschlossenen Standorten die Bau-Standards zu erhöhen – und so das Thema Wohnungsnot gleich miterledigen.“
Hier gewährt Essen Asyl: 57 Unterkünfte – vom Zelt bis zum Hotel
Zeltdörfer. Um auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise Obdachlosigkeit zu vermeiden, wusste die Stadt sich nicht mehr anders zu helfen, als Zeltcamps zu errichten. Stadtweit gibt es zehn Standorte mit 3902 Plätzen. Weil die Unterbringung hier sündhaft teuer ist, werden die Zeltdörfer bis Mai 2017 Zug um Zug aufgegeben.
Übergangswohnheime. Die im ganzen Stadtgebiet, zwischen Alte Bottroper Straße in Bergeborbeck und dem Werdener Löwental, verstreuten Übergangswohnheime bilden so etwas wie das Grundgerüst der Asyl-Unterbringung. Ingesamt gibt es elf Standorte mit 837 Plätzen, solide Bauten, aber zum Teil schon arg ramponiert.
Hotels und Sonstige. Was sie vereint, sind nur die freien Betten: Zwei Hotels und ein Gasthaus, das Bildungshotel des Bfz, das Berufsförderungswerk Bau und das Internat im Handball-Leistungszentrum bieten ebenfalls Zuflucht – sechs Standorte mit 407 Plätzen, die man aber hofft, um den Jahreswechsel räumen zu können.
Behelfseinrichtungen. Vor allem aufgegebene Schulstandorte wurden zu provisorischen Flüchtlingsheimen umgebaut, aber wie das so ist mit Provisorien: Man braucht sie länger als geplant. Sechs Standorte mit 889 Plätzen gibt es im Stadtgebiet, sie sollen, das hat der Rat bereits beschlossen, möglichst bald als Asyl aufgegeben werden.
Mietstandorte. Warum alles neu bauen, wenn man auch anmieten kann? Nach diesem Motto nutzt die Stadt vor allem leerstehende Bürobauten, die von den Eigentümern zu Flüchtlingsheimen umgebaut wurden und werden, aber auch das ehemalige Kloster in Schuir. An zehn Standorten entstehen so bis zu 2570 Plätze.
Neubauten. Es gab am Ende zu wenige als Asyl nutzbare Bestandsgebäude, also bildet eine wichtige Säule der Unterbringung der Neubau. An 14 Standorten entstehen so 3190 Plätze – Container-Dörfer genauso wie Modulbau-Siedlungen. Hinzu kommen Massivbauten an fünf Zeltdorf-Standorten mit weiteren 1800 Plätzen.