Essen. Am 19. Juni vor 120 Jahren kam Wehmhöner junior als 100.000. Bürger Essens zur Welt. Es folgte ein beispielloser Boom – und ein ebensolcher Absturz.
- Stand Ende Mai zählten die städtischen Statistiker 588.257 Essener
- Damit ist die Einwohnerzahl verglichen mit Ende März leicht gesunken
- Das boomende Leipzig droht Essen bundesweit vom 9. Platz zu verdrängen
In dieser Stadt war jeder seines Glückes Schmied, aber dieser kleine Wonneproppen hier war eines Schmiedes ganzes Glück. Man schrieb den 19. Juni des Jahres 1896, und Wilhelm Wehmhöner muss schier geplatzt sein vor Stolz.
Nicht genug, dass der Kruppianer die Geburt seines ersten Sohnes vermelden konnte. Der kleine Stammhalter mit dem Vornamens-Vierklang „Erich Friedrich Rudolf Robert“, den der Fotograf später so herzallerliebst knuddelig auf flauschigem Flokati ablichtete, dieser kleine Erich war niemand geringeres als der 100.000. Bürger der aufstrebenden Stadt Essen. Und machte diese nach den Vorschriften der Internationalen Statistikkonferenz von 1887 in dem Moment, da er das Licht der Welt erblickte, zur Großstadt.
Auch interessant
Was für ein Ereignis an diesem Tag vor 120 Jahren! Wehmhöners Arbeitgeber Krupp schickte ein Gückwunschtelegramm an Oberbürgermeister Erich Zweigert – und machte für Klein-Erich beachtliche 300 Mark locker. Ein kleines Vermögen, wenn man bedenkt, dass ein Bergarbeiter für ein wilhelminisches Drei-Mark-Stück damals einen ganzen Tag schuften musste.
Platz für über 800.000 Menschen
Es muss am inflationären Sprung über all die folgenden 100.000-Einwohner-Marken gelegen haben, dass ein kleines Mädchen namens Angelika Gerzen, offiziell Einwohnerin Nummer 700.000 in Essen – sich sechs Jahrzehnte später mit vergleichsweise bescheidenen 700 D-Mark begnügen musste. Immerhin, es gab noch einen Strauß Nelken für die Mutter und drei Flaschen Rotwein für den Herrn Papa.
Dass dies nicht immer so weitergehen konnte, war auch ohne die Bergbaukrise absehbar. Wiewohl Wolf Schneider in seinem Buch „Essen – das Abenteuer einer Stadt“ anmerkte, dass „dem städtische Flächennutzungsplan zufolge auf dem Essener Areal etwas über 800.000 Menschen untergebracht werden könnten.“
Es wurden dann – umgerechnet aufs heutige Stadtgebiet – „nur“ knapp 750.000, was manch einer heute mit Seufzen, mancher eher mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen dürfte. Über Geschenke für den nächsten 100.000er hat sich die Stadt angesichts des anhaltenden Bevölkerungsschwunds jahrzehntelang jedenfalls keine Gedanken mehr machen müssen.
Dortmund kurz vor 600.000er-Marke
Doch das könnte sich ändern: Die „wachsende Stadt“, vor allem von Christdemokraten lange beschworen, ist nicht zuletzt durch den Zustrom tausender Flüchtlinge Wirklichkeit geworden. In seinem letzten Quartalsbericht registrierte das städtische Amt für Statistik, Stadtforschung und Wahlen Ende März 589.075 Einwohner mit Hauptwohnsitz in der Stadt – 11.248 mehr als exakt ein Jahr zuvor. Die 600.000er Marke – in greifbare Nähe gerückt?
Kann sein, muss aber nicht: Die frischesten Zahlen, erhoben zum Stichtag 31. Mai, zeigen wieder einen kleinen Abschwung auf 588.257 Einwohner. Zu wenig, um daraus einen Trend abzuleiten. Aber doch das Signal, dass Essen mittelfristig sogar seinen Rang als neuntgrößte Stadt der Republik an das boomende Leipzig verlieren könnte. Der Revier-Rivale Dortmund ist ohnehin schon enteilt, erwartet den 600.000 Einwohner noch in diesem Jahr und war auch ein Jahr früher, nämlich 1895 schon Großstadt.
Es bleibt einem aber auch nichts erspart.