Essen. Essens oberster Flüchtlingshelfer, Sozialdezernent Peter Renzel, über gestiegene Arbeitsbelastung und die Tücken der Unterbringung von Asylbewerbern.
- Essens Sozialdezernent Peter Renzel ist der oberste Flüchtlingshelfer der Stadt
- Im Interview spricht er auch über gute und schlechte Erfahrungen bei Bürgerversammlungen
- Über Flüchtlinge sagt Renzel unter anderem: „Diejenigen, die hier leben wollen, müssen auch selber Leistungen erbringen.“
Herr Renzel, Hand aufs Herz: War Ihnen in den vergangenen Monaten nicht auch mal danach zu flüchten?
Peter Renzel: Nein, zu keinem Zeitpunkt. Gerade in den letzten Monaten hat der Oberbürgermeister mit dafür gesorgt, dass nicht immer einer alleine vorne steht, sondern wir als Verwaltung eine Mannschaftsleistung vollbringen müssen.
Dennoch sind Sie der Vorturner, wenn’s um die Flüchtlinge geht.
Renzel: Dadurch, dass ich immer vorne stand und Gesicht zeigte auf vielen Bürgerversammlungen, hängt natürlich vieles am Sozialdezernenten, an mir. Aber es hat nie das Gefühl bei mir erweckt: Ich will das nicht mehr.
Wie haben Sie das letzte halbe Jahr erlebt?
Flüchtlingskrise: Zwölf Interviews, zwölf Blickwinkel
Bislang veröffentlichte Folgen unserer Interviewserie zur Flüchtlingskrise in Essen. Weitere Interviews folgen.
- zum Interview mit einer syrischen Flüchtlingsfamilie: Eine syrische Familie über Flucht und Neustart in Essen
- zum Interview mit dem Essener AfD-Chef Stefan Keuter: „Volk will diese Masseneinwanderung nicht“
- zum Interview mit Amer Alsaid: Wie kritisch ein syrischer Flüchtling Deutschland sieht
- zum Interview mit Christian Kromberg, Chef des Krisenstabes: Essen hat in der Flüchtlingskrise Tabus gebrochen
- zum Interview mit Stella Curci: Ehrenamtliche Helferin aus Karnap: „Herr Reil kann das nicht beurteilen“
- zum Interview mit Ridda Martina: Unterkunfts-Chef spricht über die Mühen der Integration
- zum Interview mit Hans-Jürgen Best: Essens Stadtplaner wirbt für neue Siedlungen
- zum Interview mit SPD-Ratsherr Guido Reil aus Karnap: Integration arabischer Flüchtlinge scheitert
- zum Interview mit Rudi Löffelsend: Caritas-Mitarbeiter über Hilfsbereitschaft und „German Angst“
- zum Interview mit Bischof Overbeck: „Jetzt können wir zeigen, was es bedeutet zu helfen“
- zum Interview mit Thomas Kufen: Essen wird sich verändern – im Guten wie im Schlechten
Renzel: Gefühlt, als ginge es schon seit zehn Jahren so. Dabei gab es die ersten politischen Diskussionen, in Flüchtlingsfragen zu neuen Entscheidungen kommen zu müssen, ab 2012. Wir gehen ins vierte Jahr, wo wir vieles vorgedacht, geschrieben und entwickelt haben. Es wurde nicht immer darüber entschieden. Das ist natürlich schwierig, wenn man immer wieder nach Hause geschickt wird.
Hat denn nicht gerade diese Entscheidungsunfreudigkeit erst zu der Notunterbringung in Zelten geführt?
Renzel: Das Einzige, was wir durch frühzeitige Entscheidungen hätten verhindern können, sind die Behelfsunterkünfte in ehemaligen Schulen. Die waren ja schon damals für den einen oder anderen ein schmutziges Angebot. Heute sind wir froh, dass wir die haben. Die Situation, die dann zu den Flüchtlingsdörfern führte, war nicht vorhersehbar. Wir waren ab Mitte August blank und hatten einfach keine Plätze mehr.
Und dann ging’s ja erst richtig los.
Renzel: Und zwar in einer relativ hohen Dramatik, wie ich finde. Das hat ja dazu geführt, dass wir eine Belastungsanzeige gegenüber dem Land geltend gemacht haben und seit September auch nur 35 Flüchtlinge täglich aufnehmen mussten. Normalerweise wäre es mehr als das Doppelte gewesen. Dann hätte es in Essen vielleicht so ausgesehen wie in Berlin oder Hamburg, wo die Menschen auf den Straßen und in Parks schlafen.
Belastung nach außen zu signalisieren ist das eine, die Belastung nach innen zu spüren eine andere Herausforderung. Was hat das tägliche Geschäft mit den Flüchtlingen in der Stadtverwaltung und bei Ihnen persönlich verändert?
Renzel: Die Stadtverwaltung ist in Teilen über die Grenzen der Belastbarkeit gegangen. Es geht dabei immer um Mitarbeiter, um Menschen, die so belastet sind, dass sie regelmäßig Auszeiten brauchen, um wieder Kraft zu tanken. Das geht an die Nerven, da gibt’s auch innere Konflikte. Deshalb sind wir froh, dass es das Signal gibt, 250 Stellen zu schaffen, aber die müssen erst mal da sein.
Der Personalrat sagt, 700 wären notwendig.
Renzel: Die 250 Stellen sind ein erster Schritt, das ist von uns deutlich gemacht worden. Wir brauchen noch mehr Personal.
Macht sich unter den Mitarbeitern nicht längst der Frust breit?
Renzel: Bei den Mitarbeitern macht sich dann Frust breit, wenn keine Perspektive da ist. Aber die Gespräche sind nicht am Ende, wir wissen alle, dass wir mehr Bedarf haben.
Sie sind als Chef so etwas wie der Fahnenträger. Wie schafft man es, die Truppe für den täglichen Kampf immer wieder zu motivieren?
Renzel: Ich erlebe in meinem Umfeld sehr hohe Verantwortungs- und Engagementbereitschaft. Es hängt vieles davon ab, wie wir als Führungskräfte mit dem Thema umgehen.
Wie hat sich Ihr Tagesablauf verändert?
Renzel: Verändert hat sich die Arbeitsmenge, die ich für ein einziges Themenfeld aufwende. Aber das andere geht ja auch weiter. Das sind viele hundert Aufgaben, die wir in meinem Geschäftsbereich bearbeiten. Aber natürlich fordert uns dieses eine Topthema noch mehr heraus.
Was heißt das?
Renzel: Das bedeutet, wir stehen mit dem Thema Flüchtlinge auf und gehen damit ins Bett.
Und wenn nachts was passiert in den Flüchtlingsunterkünften?
Renzel: Dann fahre ich selbst raus. Ich rufe nicht bei der nächsten Hierarchiestufe an und sage: Regelt das mal.
Dazu kommen die Bürgerversammlungen, die Infoabende. Wie haben Sie diese Veranstaltungen erlebt?
Renzel: Sie sind alle sehr gesittet und sehr fair. Aber der Unmut ist da, entweder weil wir eine Einrichtung planen oder weil wir zu spät darüber informiert haben oder weil man die Tagesschau gesehen hat, wo es hieß, es kommen doch nicht mehr so viele.
Das ist derzeit doch Fakt.
Zur Person: Peter Renzel
Bei Peter Renzel, Jahrgang 1962, laufen die Fäden für Unterbringung, Betreuung und Integration der Flüchtlinge und Asylbewerber in Essen zusammen.
Der CDU-Mann wechselte 2002 vom Caritasverband im Bistum Essen in die Stadtverwaltung und leitete zunächst das Jugendamt, bevor er 2007 auf den Dezernentenposten wechselte.
Renzel: Aber die Bereitschaft über Fakten reden zu wollen, ist nicht immer sehr ausgeprägt. Deswegen erlebe ich Bürgerversammlungen als sehr fragend. Bei den mittlerweile 37 Veranstaltungen dieser Art habe ich viele Menschen kennen gelernt, die nach Fakten fragen, über die bereits mehrfach berichtet wurde. Es ist erschreckend, wie viele Bürger es gibt, die nichts wissen. Deshalb ist einer unserer Schlüssel zum Verständnis ständige Kommunikation und Transparenz. Es gab aber nur zwei Bürgerversammlungen, wo man sagen musste, das ist sehr grenzüberschreitend.
Werden die Treffen benutzt für politische Kraftmeierei?
Renzel: Das war ein, zwei Mal, z.B. vor der Kommunalwahl mit den unsäglichen Vertretern von Pro NRW oder NPD. Die AfD hat sich nie blicken lassen. Ich habe den Eindruck, dass sich die allermeisten Bürger, auch oder gerade die kritischsten, sich der Demokratie verpflichtet fühlen.
Wer sind die, die nach einem solchen Abend helfen?
Renzel: Das sind meist die Menschen, die eh schon organisiert sind, die sich auch sonst schon engagiert haben für unsere Stadt. Alles eigentlich Bürger, denen manche in Deutschland sagen, ihr seid auf dem absteigenden Ast. Nein, diese Essener, die schon mal als Gutmenschen verschrien sind, sind nicht auf einem absteigenden Ast. Sie sind es, die die Initiativen bilden, die unsere Gesellschaft zusammenhalten.
Haben Sie eigentlich auf jede Flüchtlings-Frage eine Antwort?
Renzel: Nein. Deshalb brauchen wir ja auch den Diskurs und manchmal auch den Streit. Aber Argumente sorgfältig abzuwägen, ist insbesondere dann schwer, wenn ich jetzt Entscheidungen brauche.
Kritiker sagen, manche Entscheidung wäre überflüssig gewesen, wenn mehr Asylbewerber in Wohnungen vermittelt worden wären.
Renzel: Was das Thema Unterbringung in Wohnungen angeht, haben wir das in der Vergangenheit alles mit vorhandenem Personal und mit vorhandenem Erfahrungswissen gemacht. Jetzt stellen wir das mit dem Konzept der Wohnungsvermittlungsagentur auf neue Füße.
An den Standards der Stadt haben potenzielle Vermieter oft Kritik geübt. Können Sie das nachvollziehen?
Renzel: Vieles haben wir mit dem Land und Wohnungsbaugesellschaften entwickelt und abgesprochen. Wer unsere Standards kritisiert, guckt vielleicht gerade auf seinen eigenen, sprich, welche Bude er gerade zu vermieten hat. Wir haben in den letzten zweieinhalb Jahren rund 1300 Flüchtlinge in Wohnungen vermittelt. Und wir haben überall gute Erfahrungen gemacht.
Stellen sich die guten Erfahrungen von selbst ein?
Renzel: Wichtig ist eine gute Vorbereitung der Unterbringung mit Mieter und Vermieter. Das ist eine Grundlage für gelingende Integration. Wenn wir, koste es was es wolle, jede Bude anmieten, dann passiert genau das, was andere ebenso befürchten: Ghettoisierung, Schmutz und Müll.
Müsste eine Vermittlung auch aus Kostenüberlegungen nicht noch schneller vonstatten gehen?
Renzel: Wir wünschen uns alle, dass das viel schneller geht. Doch der Wohnungsmarkt ist sehr angespannt. Es ist eine der ambitioniertesten Aufgaben, auf der einen Seite leer stehenden Wohnraum zu vermitteln oder anzumieten und auf der anderen Seite neuen Wohnraum zu schaffen. Das ist eine konzeptionelle Aufgabe dieser Stadtgesellschaft und nicht nur eine der Planungsverwaltung, auch wenn sie dies federführend macht.
Die Stadt wächst in einer atemberaubenden Geschwindigkeit...
Renzel: ...was bedeutet, dass bis zu 18 000 neue Wohnungen gebaut werden müssen. Bei der ganzen Planung müssen wir auf die Durchmischung unserer Stadtteile großen Wert legen. Das wird eine der großen Aufgaben der Stadtentwicklung sein.
Wir haben jetzt 37 000 Einwohner mehr als noch 2011 prognostiziert. Das liegt doch nicht nur an den Flüchtlingen oder?
Renzel: Nein, natürlich nicht nur. Diese Stadt erlebt einen Zuzug auch der Menschen, die Asyl in diesem Land bereits bekommen haben. Ende 2014 hatten wir rund 1300 Syrer in Essen, heute sind es über 5000. Und sie ziehen in die Quartiere, wo sie Wohnraum bekommen. Das wird uns im Rahmen unseres Quartiermanagements sehr herausfordern.
Was sich nicht von vorne herein steuern lässt, muss nachjustiert werden, richtig?
Renzel: Wir können die Belegung von Unterkünften zentral steuern, die Anmietung von Wohnungen aber nicht.
Unterbringung ist das eine Thema, Integration das, was folgen muss. Was ist zu tun?
Renzel: Ich habe vier, fünf Felder ausgemacht, die konzentriert zu bearbeiten sind. Wir müssen darauf aufsetzen, was wir in den Unterkünften vielleicht schon erledigt haben, wo die Menschen zum ersten Mal mit unserer Kultur in Berührung kommen. Danach passiert Integration in den Stadtteilen, durch Wohnen, durch Bildung. Alle beteiligten Institutionen müssen sich dem Ziel verschreiben, individuelle Förderketten aufzubauen, damit jeder Einzelne am Ende von Arbeit leben kann.
Das ist ein Idealbild. Davor steht eine Herkulesaufgabe. Ist diese Stadt darauf organisatorisch und finanziell vorbereitet?
Renzel: Das ist nicht nur eine städtische Aufgabe, das ist in allererster Linie auch eine staatliche Aufgabe, die durch Bund und Land zu finanzieren ist. Der Bund hat reagiert, indem die Eingliederungsmittel für die örtlichen Agenturen aufgestockt worden sind. Man kann aber keine Maßnahme machen, in der tausende Menschen mal eben qualifiziert werden. Wir brauchen zudem Personal und Räume, um die Sprachförderung voranzutreiben. Wir müssen dran bleiben an jedem Einzelnen, bis er in dieser Stadt das Laufen gelernt hat.
Klingt nach Rundumsorglos-Paket...
Renzel: Klar ist: Diejenigen, die hier leben wollen, müssen auch selber Leistungen erbringen. Diese Kultur müssen wir ihnen vermitteln. Wir aber müssen auch dafür sorgen, dass die Menschen sich Perspektiven erarbeiten können. Ich habe den Eindruck, wenn ich mit den Bewohnern der Einrichtungen spreche, dass es notwendig ist, nicht nur den Bürgern, sondern auch den Flüchtlingen gegenüber Transparenz zu pflegen, und ihnen deutlich zu machen, wie leben wir hier, was erwarten wir.
Einige aber wollen offenbar partout nicht mitspielen oder?
Renzel: Das ist so wie in unserer bisherigen Stadtgesellschaft auch. Es gibt gute und böse Menschen, es gibt Menschen die kriminell werden. Es sind wenige, die auffällig sind. Wenn wir unsere Pappenheimer kennen, müssen wir da auch dran gehen. Und zwar nicht mit der Gießkanne, nach dem Motto, alle Marokkaner, alle Algerier sind potenziell kriminell. Aber wir dürfen es uns nicht gefallen lassen, dass einige wenige das Asylverfahren missbrauchen, sich ihm auch entziehen, um kriminellen Neigungen nachzugehen.
Was genau wollen Sie dagegen unternehmen?
Renzel: Das werden wir im Detail nicht über die Medien kommunizieren. Aber wir haben uns mit der Polizei und der Justiz eng abgestimmt. Wir werden gemeinsam Erfolg haben, da bin ich mir ganz sicher.
Hinter Ihnen hängt ein Schild an der Tür. „Herr der Lage“ ist darauf zu lesen. Hatten Sie in der Flüchtlingskrise eigentlich jemals das Gefühl, genau das nicht mehr zu sein?
Renzel: Nein. Es gibt aber auch nicht nur einen, der Herr der Lage sein muss.
Aber jeder fühlt es doch, ob er es ist oder nicht.
Renzel: Ich habe in der gesamten Zeit seit 2012, aber auch in den vergangenen sieben, acht, neun Monaten nie meinen Humor verloren. Ich laufe nicht mit hängenden Schultern durch die Stadt. Ich glaube, das ist eine der Eigenschaften, die man in diesen Zeiten haben muss, dass man den Kopf nicht in den Sand steckt, sondern immer noch positiv in die Zukunft blickt. Das tue ich und fühle mich von ganz vielen Menschen hier in Essen getragen. Am Ende brauchen wir den Konsens und der Konsens braucht Zeit.
Das Gespräch mit Peter Renzel führte Jörg Maibaum.