Entschärfung ausgerechnet zur Hauptverkehrszeit – muss das sein?
Leider ja. Der seit 2014 gültige Rund-Erlass der Bezirksregierung Düsseldorf schreibt die „unverzügliche“ Entschärfung eines Blindgängers vor. „Früher konnten wir uns ein bis zwei Tage Zeit nehmen“, sagt Ordnungsdezernent Christian Kromberg. Man habe die Bombe bewacht, betroffene Menschen informiert und die Entschärfung in eine „angenehme“ Zeit legen können, etwa 10 Uhr morgens.
Bedeutet „unverzügliche Entschärfung“ weniger Aufwand?
Nein, im Gegenteil. Der Aufwand ist bedeutend höher. Der Krisenstab muss mitunter bis zu 270 Kräfte mobilisieren: Feuerwehrleute, Polizisten, städtische Ordnungskräfte, Katastrophenhelfer, Ehrenamtler der DLRG, Malteser, DRK usw. Mittwoch kamen 220 zum Einsatz. Trotzdem hält Kromberg fest: „Wir haben den Rund-Erlass professionell umgesetzt und sind in der Lage, das Prozedere der Entschärfung in nur vier Stunden abzuwickeln. Das ist sehr schnell.“
Schon dreimal war die Baustelle Europacenter betroffen. Ist nicht gründlich genug gesucht worden?
Keineswegs. Nach dem ersten Bombenfund am 12. Januar sei die gesamte Baustelle akribisch sondiert worden, betont Stadtsprecherin Silke Lenz. Früher stand dort das Finanzamt Essen-Nord. Übrig geblieben sind Kellerwände und das Fundament. Dieses wird jetzt freigelegt und aufwändig zerkleinert. Sondierungen seien deshalb zunächst nur im Außenbereich möglich gewesen. Schlummert ein Blindgänger unter einem Schuttberg, haben die so genannten „Magnetometer“ des Kampfmittelbeseitigungsdienstes Probleme, Blindgänger etwa von Altmetall zu unterscheiden.
Wie tief bohren sich Blindgänger eigentlich in die Erde?
Bis zu acht Meter. Wenn die Oberflächen-Detektion keine Verdachtspunkte ermittelt, können die Trupps Tiefensondierungen bis zu einer Tiefe von 7,50 Meter durchführen.
Essen in Trümmern
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Ist Essen häufiger betroffen als die Nachbarstädte?
Nicht unbedingt. „Die gesamte Ruhrschiene Essen-Oberhausen-Duisburg ist im Krieg schwer bombardiert worden“, sagt Rolf Vogelbacher, Dezernent für Kampfmittelbeseitigung der Bezirksregierung.
Der „Feuersturm“ liegt mehr als 70 Jahre hinter uns. Ist ein Ende der Blindgängerfunde absehbar?
Leider nein. „Die Fundzahlen sind weiterhin konstant“, betont Vogelbacher. Selbst wenn nicht punktuell auf Baustellen, sondern flächendeckend in ganz NRW gesucht würde, würde man „einige hundert Jahre“ benötigen, um das Land „blindgängerfrei“ zu machen. Wie „verseucht“ Essen immer noch ist, deutet die nebenstehende Blindgänger-Grafik für die letzten drei Jahre an.
Kampfmittelbeseitigung ist...
...Aufgabe der Kommune – im Fall Essen die des Ordnungsdezernats. Allerdings werten die Düsseldorfer Experten die Luftbilder aus, die die Piloten der Royal Air Force 1945 aufgenommen haben. Suche und Bergung der Blindgänger sei ebenfalls Sache der Düsseldorfer, die Kosten trägt das Land. Für Evakuierungen ist jedoch Essen zuständig.
Können die Kriegsluftbilder von jedermann eingesehen werden?
Nein. Die Briten haben ihre Luftbilder den deutschen Behörden nur zur Verfügung gestellt, damit sie behilflich sind, Kampfmittel zu beseitigen. „Bitte sehen Sie daher von jeglicher, die Luftbilder betreffenden Kontaktaufnahme ab“, heißt es.
Von rund 14 000 Blindgängern schlummern noch viele im Boden
Die Zahl der Essener, die eigene Erinnerungen an die Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg haben, ist nur noch klein. Wer es erlebte, den begleitet das Entsetzen ein Leben lang. Rund 250 Luftangriffe hat Essen von 1940 bis 1945 erlitten, davon 30 sehr schwere, an denen mehrere hundert Flugzeuge beteiligt waren.
Rund 6500 Essener starben – sie verbrannten, erstickten oder wurden zerrissen. Diese ungeheure Zahl ist sogar vergleichsweise gering. In Mittelstädten ohne „Alarm-Routine“ und ausgebautes Bunkernetz verloren in einer Nacht mitunter 20 000 Menschen ihr Leben.
Die ersten Luftangriffe glichen noch Nadelstichen. Für die auf Sicht und oft nachts fliegenden Piloten war es schwer, überhaupt die richtige Stadt zu treffen, zu schweigen von einzelnen Gebäuden oder Fabrikhallen. Ab 1943 aber standen der britischen Luftwaffe Peiltechniken zur Verfügung, die es ermöglichten, die Bombenlast ziemlich zuverlässig ins Ziel zu bringen – und das Ziel waren in Essen die dicht besiedelten Stadtteile und die Werke von Krupp. Holsterhausen, Wohnort vieler Kruppianer und nah an der Fabrik, geriet also gleich aus zwei Gründen ins Visier. Das Ergebnis ist auf dem Bild oben zu besichtigen. Neben der Innenstadt war Holsterhausen am gründlichsten zerstört.
Historiker: rund 100 000 schwere Sprengbomben
Die Briten wussten, dass sie die Physik zu Hilfe holen mussten, um dies zu erreichen. Sie ersannen eine Mischung aus Brand- und Sprengbomben, die in den Stadtquartieren die gefürchteten Feuerstürme verursachten. Am Ende waren von 184 000 Essener Wohnungen rund 60 000 nicht mehr existent, rund 24 000 geringfügig oder gar nicht beschädigt. Der Rest war mehr oder weniger mühevoll zu reparieren.
Erneuter Bombenfund in Essen
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Wieviele Bomben gingen nun auf Essen nieder? Ganz exakt weiß das niemand. Die Zahl der Brandbomben, die jeweils nur wenige Kilogramm wogen, geht in die zig Millionen. Auch sie werden noch hin und wieder gefunden, ihre Entschärfung ist aber in der Regel nicht sehr aufwändig.
Von den schweren Sprengbomben, die bis heute das Blindgänger-Problem verursachen, sind laut Schätzung des Essener Historikers und Bombenkriegs-Experten Norbert Krüger rund 100 000 auf die Stadt gefallen, wobei jede Siebte nicht detonierte. Von den somit rund 14 000 Essener Blindgängern sind noch während des Krieges und in den Jahren des Wiederaufbaus mutmaßlich die Mehrzahl gefunden und entschärft worden. Tausende andere aber wurden nach 1945 einfach überbaut und schlummern tief im Erdreich. Ihr Stahlmantel hält fast ewig.
Unzählige Essener leben und arbeiten also über einer Bombe. In aller Regel ist das kein Problem, aber es kann eines werden. Spätestens dann, wenn – wie am Europacenter – ein Neubau ansteht.
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