Essen. Der junge Asylbewerber ist erst 17. Seine zerbombte Heimat wollte er gar nicht verlassen, aber seine besorgten Eltern haben ihn zur Flucht gedrängt.

Aufgewachsen ist Omar in Deir ez-Zor im Osten Syriens, seit sechs Wochen hat er in Essen eine neue Heimat gefunden: im Diakonie-Werk an der Ahrfeldstraße. Im Amtsjargon fällt der 17 Jahre alte Syrer in die Kategorie „Unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender“, eine besonders schutzbedürftige Gruppe, die auch in Essen immer größer wird und Behörden, Sozialverbände sowie Politik vor ungekannte Herausforderungen stellt. Während Essener Jugendliche in seinem Alter chillen, chatten und mit viel Zuversicht ein vergleichsweise unbeschwertes Leben genießen, stehen Omar die Schrecken des Bürgerkriegs, der Horror der Flucht und quälendes Heimweh im Gesicht geschrieben.

„Ich wollte mein Land gar nicht verlassen, aber meine Eltern haben mich angefleht“, erzählt er – mit halber Stimme und gesenktem Blick. Von den Ufern des Euphrats an die Ruhr geworfen – in eine völlig fremde Welt: Omar, ein schlanker, fast hagerer Typ, schmal im Gesicht und ernst seine Miene, kurz getrimmtes Haar und akkurat gestutzter Vollbart, wirkt sympathisch und unsicher zugleich. Ab und zu huscht ein schüchternes Lächeln über sein Gesicht.

„Schreie im Schlauchboot“

Er berichtet von den Bomben, die Machthaber Assad aufs eigene Volk wirft, und von den Sorgen seiner Eltern, die er in der Heimat zurückgelassen hat. „Ihre Verzweiflung war so groß, dass Geld keine Rolle mehr spielte“, sagt er. Mehr als 4000 US-Dollar – für einen gut verdienenden Syrer drei Jahresgehälter – hätten sie mühsam zusammengekratzt, um sein Leben und das seines älteren Bruders zu retten. Letzterer lebt jetzt in Bochum.

Die gut 4000 Kilometer lange Flucht führt die beiden zuerst über die Türkei nach Griechenland. „Wir waren 45 in einem Schlauchboot, die Überfahrt dauerte drei Stunden.“ Die herzzerreißenden Angstschreie der Frauen und Kinder hat er immer noch im Ohr. Die letzte Etappe ins rettende „Almania“ legen die Brüder in einem kleinen Schleuser-Laster zurück – eingepfercht zu fünfzehnt, ohne Fenster, ohne Essen, ohne Getränke.

„Sehr nett, hilfsbereit und respektvoll“, findet er die Deutschen. Nur auf Nachfrage gibt er preis, was ihm gar nicht gefällt: „Ich sehe viele betrunkene Menschen auf der Straße und Drogensüchtige“, sagt er, und fügt kopfschüttelnd die entsetzlichen Bilder von Neonazis hinzu, die jetzt massenhaft gegen Flüchtlinge hetzten.

Kaum noch Schulplätze für unbegleitete Jugendliche

So richtig angekommen zu sein scheint Omar noch nicht. „Mein Verstand sagt Ja, aber mein Herz noch Nein“, gesteht er. Der Krieg und die Bomben, die Flucht und die Trennung von den zurückgebliebenen Eltern haben den sensiblen jungen Mann hart und schlagartig erwachsen gemacht. Im Aufnahmeheim erzählen sie, wie er, der Erschöpfte, die ersten Tage im neuen Domizil verbracht habe: „Mit viel Schlafen und viel Essen.“ Die Stille, die das Haus an der Ahrfeldstraße umgibt, stört ihn überhaupt nicht – im Gegenteil. „Lieber diese Ruhe als der schreckliche Lärm der Bomber.“

Manchmal stockt seine Stimme, denn in die Freude übers sichere Leben hier mischen sich Trennungsschmerz und Kummer. Die Gerüche seiner Heimat vermisst er ebenso wie die Leibgerichte, die seine Mutter für ihn gekocht hat. Eigenhändig zu Topf und Pfanne zu greifen, hat er nie gelernt. „Ich kann nicht kochen.“

Seit diesem Donnerstag darf der junge Flüchtling – strebsam und gebildet wie die allermeisten seiner geflüchteten Landsleute – endlich wieder die Schulbank drücken. Weil so viele unbegleitete Jugendliche auf der Flucht sind, gibt’s kaum noch Schulplätze. Omar lacht und sagt: „Mein Lieblingsfach ist Mathematik, ich will hier studieren und freue mich drauf.“

Fürsorge nach der Flucht: Clearingstelle „Newland“ ab 1. November

In Nordrhein-Westfalen kamen die meisten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge bisher in die Städte Aachen, Bielefeld, Köln, Dortmund, Düsseldorf. Ab November wird diese Aufgabe gerecht auf alle 186 Jugendämter verteilt. In Essen leben gut 70 der jungen Flüchtlinge in Heimen und Wohngruppen, weitere 123 bei Verwandten. Künftig rechnet die Stadt mit gut 200 jungen Flüchtlingen pro Jahr.

Viele haben eine traumatische Geschichte und eine belastende Flucht hinter sich; brauchen viel Fürsorge oder Therapien. Um zu ermitteln, welche Hilfe ein junger Flüchtling benötigt, richtet die Stadt eine Clearingstelle ein. Hierhin kommen die Jugendlichen, nachdem ihr Alter geschätzt wurde und das Jugendamt sie in Obhut genommen und einen Vormund bestellt hat. Binnen drei Monaten soll – so sieht es der Gesetzgeber vor – ihre Situation geklärt werden.

Eingerichtet wird die Clearingstelle „Newland“ im Kolping-Berufsbildungswerk in Kray, wo Jugendliche in der Klärungsphase leben. Ab November stehen hier bis zu 60 Betten bereit. Betreut werden die Teenager von Sozialdienst katholischer Frauen und Diakoniewerk. Sie helfen, Sprachkurs, Ausbildung, Schulbesuch zu organisieren. Sie prüfen, ob es in Deutschland Verwandte gibt, die einspringen können. Sie schauen, wer reif für eine Wohnung ist, wer besser im Heim aufgehoben wäre und wem Familienanschluss gut täte.