Essen. . Kray hat ein Image-Problem und graue Seiten. Beim genaueren Hinsehen entdeckt man aber etwas anderes. Folge 10 der Stadtteil-Serie „60 Minuten in...“.
Ein Sonnenstudio, der obligatorische türkische Schnellimbiss, dazu Mehrfamilienhausfassaden, die mal wieder einen Anstrich vertragen könnten: Am Krayer Markt kann man einige Klischees über ärmere Ruhrgebiets-Stadtteile bestätigt finden. Wenn man will.
In Kray „wird Klartext gesprochen“
Doch schon hier ist das Bild gebrochen, fein verzierte und recht frisch sanierte Jugendstilfassaden korrigieren einige Vorurteile. Und was für den Markt gilt, erlebt man auch in vielen anderen Straßen immer wieder. Was Baudenkmäler betrifft, steht Kray, der Stadtteil für den zweiten Blick, in Essen auf dem zweiten Platz. Nur Kettwig hat mehr geschützte Einzelhäuser zu bieten. Eine Überraschung – jedenfalls für diejenigen, die keine Kray-Kenner sind.
„110 sind in die Denkmalliste eingetragen“, betont Lothar Albrecht, Leiter des Krayer Archivs, das alles Historische über den Stadtteil sammelt. Einige davon stehen am Krayer Markt. „Dies hier zum Beispiel ist ein richtiges Vorzeigehaus“, stellt Albrecht fest und deutet auf die helle repräsentative Fassade Krayer Markt Nummer 7 mit fein gearbeiteten Steinelementen und historischen Fenstern.
Mit Eulenspiegel-Aktion zum neuen Aufzug
Jahrelang bohrte man vergeblich nach Geld für einen neuen Aufzug im Krayer Rathaus. Bis anlässlich der 100-Jahrfeier 2008 der damalige Ratsherr Dieter Dreier den OB Wolfgang Reiniger am Fuße der Außentreppe bewusst so lange in ein Gespräch verwickelte, bis der OB Zeuge wurde, wie der, in seiner Mobilität eingeschränkte und heute verstorbene Stadthistoriker Ernst Schmidt die Treppe heraufgetragen wurde. Am Ende standen 360 000 Euro aus dem Konjunkturpaket II für den neuen Aufzug.
Bekannt sind die schönen Seiten Krays in Essen kaum. Lothar Albrecht ist das Image des Stadtteils sehr präsent, und das seit Jahrzehnten. „Wenn man den Leuten sagt, wo man wohnt, dann kommen erstmal komische Blicke“, berichtet er. Klar, die Autobahn A40 hat eine dicke Schneise durch Kray getrieben, und der Süden leidet mehr als Albrechts Nachbarschaft im Norden. Doch der 76-Jährige hat nach vielen Jahren als Leiter der Johann-Peter-Hebel-Grundschule in Überruhr und der Grundschule Burgaltendorf nicht nur ständig vermeintlich schönere Ecken gesehen, er hätte sich auch „Besseres“ leisten können. „Das wollte ich aber nie, hier wird Klartext gesprochen und das lag mir immer mehr“, sagt Albrecht.
Altbau reiht sich an Altbau
Alter Bahnhof Kray-Nord ist heute eine Moschee
Kray ist ein Stadtteil, in dem das multikulturelle Leben ganz gut funktioniert. Das weiß der langjährige Presbyter der evangelischen Gemeinde Lothar Albrecht gut. Sinnbild dafür ist auch die islamische Gemeinde, die im denkmalgeschützten Bahnhof Kray-Nord die Yavuz-Sultan-Selim-Moschee eingerichtet hat. „Wir kommen regelmäßig vorbei, etwa zum Fastenbrechen“, sagt Albrecht. Dass die muslimisch-türkische Organisation Ditib schneller das Geld für den Bahnhof zusammen hatte als seine – ebenfalls interessierte – Gemeinde, trübt das Verhältnis keineswegs.
Auch Gedanken, sich einen Altersruhesitz im europäischen Süden anzusparen, haben er und seine Frau längst da acta gelegt. „Da fehlen die Wurzeln. Und hier ist es doch schön, oder nicht?“, fragt er. Sein eigenes Haus in der Leither Straße 37 liegt fünf Fußminuten vom Krayer Markt entfernt. Vor 55 Jahren zog er der Liebe wegen von der Innenstadt nach Kray. Heute lebt er in dem Gebäude, dass der Großvater seiner Frau, Ernst Zorn, 1907 eigenhändig erbaut hat. Das Haus mit dem sauber restaurierten Erker steht auch auf der Denkmalliste. „Die Meinung von Besuchern ändert sich schnell, wenn man mit ihnen im Stadtteil unterwegs ist“, hat er oft erlebt.
Erfahrung des zweiten Blicks eben. Oft zieht er mit Besuchern zunächst von hier durch seinen bevorzugten Kiez, dem Dreieck Barbarakirche an der Krayer Straße, dem historischen Rathaus am Kamblickweg und der evangelischen Kirche an der Leither Straße. Die Seitenstraße Blittersdorfweg sieht noch aus wie vor hundert Jahren, Altbau reiht sich an Altbau. Ohne weiteres könnte man sie als Kulisse für einen Historienfilm nutzen, der zu Kaiser Wilhelms Zeiten spielt. In Essen ist das eine Rarität. „So sähe die Stadt aus, wenn sie nicht im Krieg zerstört worden wäre“, sagt Albrecht.
Essener Stadtteilwappen und ihre Bedeutung
Das Grab des Urhebers, des Architekten und Bauunternehmers Carl Hausmann, ist in der Nähe. Denn die Grünfläche gegenüber der evangelischen Kirche war früher der zweigeteilte katholisch-evangelische Gottesacker, entwidmet 1991. Nur wenige Grabsteine sind übrig, darunter der der Familie Hausmann. „Wenn die Passanten wüssten, dass hier fast 2000 Menschen liegen“, sagt Lothar Albrecht und muss schmunzeln.
Hier im Krayer Kern fühlt er sich pudelwohl und hat noch viel vor. „Wenn die Krayer einmal anfangen, dann haben sie eine Menge zu erzählen. Ich will noch etwas über den Stadtteil aufschreiben, das ich der Nachwelt hinterlassen kann“, berichtet der Mann, der seine ganz persönliche Mitte gefunden hat – in einem unterschätzten Stadtteil.
Kray in Zahlen und im Stadtteil-Vergleich
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