Essen. Änne und Rudolf Lichtenthäler sind 93 und 94 Jahre – und sehr pflegebedürftig. Die polnische Betreuungskraft Katarzyna Barwacz hilft im Haushalt.

Sie ist 93, er 94 – und beide sind Pflegefälle: Änne und Rudolf Lichtenthäler aus Essen-Stadtwald. Den geliebten Eltern einen möglichst entspannten Lebensabend in den eigenen vier Wänden zu ermöglichen, dieses Prinzip genießt für die beiden Töchter absoluten Vorrang. „Wir wollen nicht, dass Mama und Papa ins Pflegeheim kommen“, betont Ingeborg Wachtmeister (68). Diesen immensen Kraftakt würden sie ohne sie wohl kaum packen: Katarzyna Barwacz (38), die polnische Pflegekraft, die sie einfach „Kathi“ nennen – und mit viel Lob überschütten. „Sie ist einfach unbezahlbar“, findet Ingeborg Wachtmeister, und ihr Vater fügt schmunzelnd hinzu: „Unsere dritte Tochter.“

Katarzyna Barwacz steht – mit einer kurzen Unterbrechung im Januar – seit bald einem Jahr in Diensten der Essener Familie. Zwischen der neuen Bleibe in Stadtwald und ihrer polnischen Heimat in Nysa (Neiße) nahe der tschechischen Grenze liegen gut tausend Kilometer. Der Auslandsjob mag finanziell überaus attraktiv sein, aber er erfordert auch Opfer: Ihre Kinder – 19 und 21, beide in der Ausbildung – hat die alleinerziehende Mutter in der Heimat zurücklassen müssen.

Internet und Telefon sind frei

Es ist halb elf an diesem Werktagvormittag. Kathi fängt jetzt an, das Mittagessen vorzubereiten. „Natürlich gibt’s auch polnische Spezialitäten wie Bigos oder Pierogi“, sagt sie. In der Küche hängt ein Termin- und Einsatzplan für die ganze Woche. Kathis Bereitschaft beginnt um acht und endet um eins. Die eigentliche Pflege – waschen, duschen, kämmen, ankleiden – übernehmen jeden Morgen die Fachkräfte der Caritas. „Gleich danach serviere ich das Frühstück“, sagt Kathi. Weil Änne Lichtenthäler seit ein paar Jahren unter parkinsonscher Demenz leidet, muss sie gefüttert werden. Zwischen den Mahlzeiten serviert Kathi mal einen Obstteller, mal Getränke.

Der Mittagspause folgt – von 18 bis 20 Uhr – die Spätschicht. „Für mich ist wichtig, dass sich ständig jemand in der Wohnung aufhält“, betont die Tochter. Dass die Lichten­thälers auf der Forsthausstraße ein großes Mehrfamilienhaus besitzen, erleichtert vieles. So bewohnt Katarzyna unterm selben Dach ein kleines Apartment. Weil Internet und Telefon frei sind, kann sie ständig mit ihren Kindern skypen. Heimweh? „Habe ich nicht“, sagt sie, und betont, wie sehr sie das Leben in ihrer Wahlheimat genießt. „Die romantischen Weihnachtsmärkte, das Radfahren, die Einkaufsstraßen – das Leben hier gefällt mir sehr.“

Aufwändige Pflege in den eigenen vier Wänden

Rudolf Lichtenthäler fällt unter Pflegestufe II, seine Ehefrau Änne unter III. Die Kosten für die Caritas-Pflegefachkräfte übernimmt größtenteils die Pflegeversicherung. Ingeborg Wachtmeister, die im selben Haus wohnt, kümmert sich rund um die Uhr um die Eltern. Aus eigener Tasche zuzahlen, muss sie nichts. Ihre in Hannover lebende Schwester Sylvia ist immer zur Stelle, wenn Hilfe gebraucht wird.

Für die polnische Pflegekraft wendet Familie Lichtenthäler jeden Monat 1900 Euro auf, vor der Einführung des Mindestlohns waren es 1700 Euro. Weil Rudolf Lichtenthäler als Klempner- und Installateurmeister zeitlebens gespart und gut vorgesorgt hat, kann er Katarzyna aus eigener Tasche bezahlen.

Die Lichtenthälers und ihre Katarzyna: Jeder für sich profitiert vom krassen Lohngefälle, das zwischen den beiden EU-Nachbarn herrscht. Sie würde in Polen bestenfalls 250 Euro verdienen, der Auslandsjob an der Ruhr hingegen bringt ihr glatt das Fünffache: 1250 Euro netto. Auch für Ingeborg Wachtmeister steht fest: „Eine deutsche Pflegekraft könnten wir praktisch gar nicht bezahlen.“

Erfolgsgarantie gibt es nicht

Eine Erfolgsgarantie gibt’s allerdings nicht. „Vor Kathi hatten wir im Laufe der letzten fünf Jahre schon mehr als zehn polnische Pflegekräfte bei uns“, berichtet Ingeborg Wachtmeister und lässt auch den einen oder anderen Reinfall nicht unerwähnt. „Die erste Frau habe ich schon nach vier Wochen nach Hause schicken müssen.“ Die Chemie habe einfach nicht gestimmt, außerdem sei die Frau wohl von der irrigen Annahme ausgegangen, eine Art Gesellschaftsdame geben zu müssen.

Weihnachten und Ostern hat Katarzyna schon im Kreise ihrer deutschen Ersatzfamilie verbracht. Rudolf Lichtenthäler kommt gut mit Kathi aus. Er schätzt ihre fröhliche Art und ihre Lebensfreude. „Sie nimmt einem nichts krumm“, sagt er, und deutet kokett auf jene Stelle an seiner Stirn, auf der Kathi ihm gerade einen Kuss hingehaucht hat. „Da braucht sie mich jetzt nicht mehr waschen.“

Dienstleister vermitteln Polinnen an Familien 

Dass Polinnen und Frauen aus anderen osteuropäischen Staaten zu den Stützen der Altenpflege in Deutschland zählen, belegt allein die Statistik. Von 2,63 Millionen Pflegebedürftigen leben 70 Prozent (rund 1,7 Millionen) zuhause. Auf sie wiederum entfallen mindestens 150 000 polnische Betreuungskräfte, andere Quellen gehen sogar von 350 000 Polinnen aus. Für Negativ-Schlagzeilen sorgen immer wieder Fälle von Schwarzarbeit, sogar von moderner Sklavenarbeit ist die Rede.

Nicht so in unserem Fall: Die Lichtenthälers in Essen nutzen das so genannte „Entsendemodell“. Das heißt im konkreten Fall: Katarzyna Barwacz hat einen polnischen Arbeitgeber und wurde mit Hilfe des in Deutschland ansässigen Dienstleisters „Seniocare 24“ an die Essener Familie vermittelt. Inzwischen zahlt sie in Deutschland Steuern und ist auch hier sozialversichert.

Kräfte bleiben drei bis sechs Monate

Die Lichtenthälers als Auftraggeber entrichten eine jährliche Gebühr von rund 750 Euro an Seniocare 24 und überweisen monatlich 1900 Euro direkt an Kathis polnischen Arbeitgeber. „Oft gehen Frauen nach Deutschland, deren Kinder schon erwachsen sind“, sagt Seniocare-24-Chefin Renata Föry. In der Regel bleiben sie drei bis sechs Monate, möglich seien aber auch zwei Jahre am Stück. Die Löhne lägen zwischen 1370 und 2070 Euro. Föry: „Je besser die polnische Betreuungskraft Deutsch spricht, desto teurer wird es.“ Seniocare 24 hat eigenen Angaben zufolge rund 1500 laufende Verträge in Deutschland und Zugriff auf bis zu 3000 polnische Betreuungskräfte.

Die Verbraucherzentrale NRW weist auf weit verbreitete Irrtümer hin. „Viele Firmen werben mit dem 24-Stunden-Modell, allerdings sieht das deutsche Arbeitsrecht eine Beschäftigung rund um die Uhr überhaupt nicht vor“, warnt Pflegeexpertin Christiane Grote. Wer eine Betreuungskraft in seinen Haushalt aufnehmen möchte, sollte ferner prüfen, ob es überhaupt ausreichend Platz gibt.

Hauswirtschaftliche Tätigkeiten

Ein möbliertes Zimmer mit separatem Bad sei ebenso Standard wie der kostenlose Zugang zu Telefon und Internet. So sei gewährleistet, dass die Betreuungsperson Kontakt zur Familie in der Heimat habe. In der Regel üben die polnischen Kräfte hauswirtschaftliche Tätigkeiten aus (Essen zubereiten, Wäsche waschen, bügeln etc.). Zusätzlich sei jedoch der Einsatz einer Pflegekraft erforderlich, insbesondere bei schweren Pflegefällen.

Die Verbraucherzentrale gibt dem „Arbeitgebermodell“ den Vorzug vor dem „Entsendemodell“. Danach wird die deutsche Familie selbst Arbeitgeber und ist dann auch weisungsbefugt. Kosten, etwa für die Vermittlung, spare sie obendrein. Mehr Infos online: www.vz-nrw.de (Menüpunkt Themen: Gesundheit + Pflege)