Essen. Gequält und verjagt, zurückgekehrt als Sieger und später ein geehrter Zeitzeuge: Das bewegende Leben von Walter Rohr, Spross einer jüdischen Kaufmannsfamilie.
Sie kamen als feindliche Militärmacht und Respekt einflößende Kämpfer, aber für Tausende amerikanische Soldaten war der Zweite Weltkrieg auch dies: die zwiespältige Rückkehr in ein Land, das sie als gebürtige Deutsche jüdischen Glaubens verjagt hatte. Einer, der als Sieger und Befreier in die Stadt seiner Jugend kam, war der Borbecker Walter Rohr. Geboren 1917 als jüngster Spross einer angesehenen, patriotischen Kaufmannsfamilie, erlebte Walter Rohr früh, wie sich das Klima in Richtung eines gehässigen Antisemitismus veränderte. 1935 merkt der begabte Schüler des Gymnasiums Borbeck: „Es hatte keinen Sinn mehr, weiter diese Schule zu besuchen.“
Walter Rohr macht eine Lehre als Klempner - in der weisen Voraussicht, dass ihm ein praktisches Handwerk einmal weiterhelfen könnte. Als er 1938 die Prüfung besteht, haben die Geschwister das Land, das sie drangsaliert, bereits Richtung Amerika verlassen, er und seine Eltern harren in Borbeck aus. Und die Schlinge zieht sich weiter zu. Unter dramatischen Umständen und mit Hilfe von Verwandten und Freunden in den USA kann Walter Rohr Ende 1938 endlich ausreisen, nachdem er in der Pogromnacht am 9. November 1938 festgenommen und ins KZ Dachau eingeliefert wird. Später spricht er von den „schlimmsten drei Wochen meines Lebens“.
Rückkehr in seine alte Heimat
Über Frankreich und England kommt er im Februar 1940 in die USA, findet als Klempner sofort Arbeit. In buchstäblich allerletzter Minute treffen 1941 auch seine Eltern in New York ein. Rohr leistet gerade seinen Wehrdienst ab, als die USA nach dem Überfall auf Pearl Harbor in den Weltkrieg eintreten. „Ich war in der Armee und würde alles tun, um meiner Wahlheimat zu helfen“, erinnert er sich später an seine Entschlossenheit.
Er ist dabei, als sich die GIs nach Deutschland kämpfen, und am 8. Mai 1945, dem Tag des Kriegsendes, ist er in Mönchengladbach stationiert. Von einem Offizier erbittet er einen Jeep, um in seine alte Heimat zu fahren: nach Essen. „Ich machte Fotos von der Synagoge, dann Fotos von unserem alten Heim.“ In der Borbecker Ortsmitte, gegenüber vom Markt, wird er vor seinem Elternhaus von früheren Nachbarn erkannt. „Walter, bist du zurück, wie geht es dir?“ – „Mir geht es jedenfalls besser als euch.“ So schildert Rohr später den Dialog.
„Die Akten endeten alle mit der Notiz: ‚Abgereist, Bestimmungsort unbekannt’“
Nach Freundlichkeiten ist ihm (noch) nicht zumute, erst recht nicht, nachdem er im Personenstandsarchiv im Keller des alten Essener Rathauses vom Schicksal jener Verwandten liest, die nicht flüchteten: „Die Akten endeten alle mit der Notiz: ‚Abgereist, Bestimmungsort unbekannt’“. Eine zynische Umschreibung für den Abtransport in die Vernichtungslager. Walter Rohr kehrt kurz danach erschüttert in die USA zurück, entschlossen nie mehr einen Fuß in das Land seiner Väter zu setzen.
Stadtgeschichte Es kommt anders. Anfang der 1990er Jahre recherchiert der Essener Stadthistoriker Ernst Schmidt, der mit Büchern über die NS-Zeit bekannt wurde, die Geschichte der Borbecker Juden. Er stößt auf Walter Rohr, nimmt Kontakt auf, erhält viele Dokumente und schreibt über ihn. Die Männer werden Freunde.
Walter Rohr reist mehrmals nach Essen, wird im Rathaus empfangen, stellt sich in Schulen als Zeitzeuge zur Verfügung und berichtet Journalisten über sein Leben. Ein ruhiger, beeindruckender, ungemein sympathischer Mann, der die Kraft hatte zu verzeihen – und dem man dennoch die Trauer über das Erlebte anmerkte. Er starb 1998 in seiner Heimat, in Merrick im Bundesstaat New York.