Düsseldorf/Essen. Die Bevölkerung wird älter, aber nicht gesünder. Die Essener Notärzte müssen immer häufiger ausrücken – mehr als 17.000 Einsätze in nur einem Jahr.

112 – diese Nummer kennt jeder, und sie wird immer öfter gewählt. Die Zahl der Notfalltransporte steigt in Essen Jahr für Jahr. 2013 waren es schon 57.787 – über 14.850 mehr als zehn Jahre zuvor. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Notarzt-Einsätze um 2.738 auf 17.298.

Woran liegt’s? Zum einen ist im Handy-Zeitalter die Feuerwehr viel leichter erreichbar, zum anderen „werden wir älter, aber nicht gesünder“, bringt es der Essener Feuerwehr-Chef Ulrich Bogdahn, auf den Punkt. Die demografische Entwicklung ist der Hauptgrund, warum die Notärzte immer häufiger ausrücken müssen. Es gibt aber auch die Fälle, die eigentlich keine richtigen Notfälle sind.

Die Grauzone

Nach einer bundesweiten Stichprobe des Deutschen Roten Kreuzes soll bei jedem dritten Notarzteinsatz der Patient sich gar nicht in einem akut lebensbedrohlichen Zustand befunden haben. Die Stadt Essen war an dieser Erhebung nicht beteiligt, geht aber von deutlich mehr echten Notfällen aus. Entscheidend für den Feuerwehr-Chef ist, dass der Disponent nur dann keinen Rettungswagen und Notarzt raus schickt, wenn er eindeutig beim Gespräch erkennt, dass es sich nicht um einen Notfall handelt. „Im Zweifel immer für den Patienten“, betont er. „Da kleckern wir nicht, da klotzen wir.“ Weil es um Menschenleben geht. Alarmiert der Disponent einen der sieben in Essener Kliniken stationierten Notärzte nicht, „und es läuft etwas schief, dann steht er wegen unterlassener Hilfeleistung vor dem Staatsanwalt“.

Bogdahn sieht durchaus eine „Grauzone“, ob der Notarzt wirklich raus muss – oder nicht. Aber der Leitstelle bleibt nur wenig Zeit zum Nachhaken. Wenn es um Leben oder Tod geht, können Minuten, ja Sekunden entscheidend sein. Bogdahn: „Beim Herz- und Kreislaufstillstand sinkt die Überlebenschance jede Minute um zehn Prozent.“

Mancher "Notfall" ist nur eine Erkältung

Die Feuerwehr weiß auch von Fällen wie eine harmlose Schnittverletzung an der Hand, wo die Anrufer keine Lust haben, in die Arztpraxis zu gehen und nur deshalb 112 wählen. „Aber das sind Ausnahmen“, betont Feuerwehr-Sprecher Mike Filzen.

Claudia Walk ist Notärztin in Essen und beim DRK ehrenamtliche Kreisbereitschaftsleiterin. Sie macht es gerne – aus Leidenschaft. Manchmal aber – „gefühlt“ etwas mehr als früher – fragt sie sich nach einem Blaulicht-Einsatz: „Warum war ich dort?“ Da werde aus „Bequemlichkeit“, auch aus einem gestiegenen „Anspruchsdenken“ nach dem Notarzt gerufen. Claudia Walk: „Ich muss doch nicht mit einem grippalen Infekt mit dem RTW in die Klinik gefahren werden.“ Es sei schon vorgekommen, dass der Notfall sich vor Ort als harmlose Erkältung herausstellte – oder dass Patienten nur schnell ein Rezept wollten (das der Notarzt übrigens nicht ausstellen darf).

"Lieber einmal zuviel als zu wenig"

Einzelfälle, durchaus. Aber genau die können eintreten, „wenn gleichzeitig vier Straßen weiter der Notarzt wirklich benötigt wird“, so Walk. Vor allem sei es „Unsicherheit“ oder „Unwissenheit“, die bei den Anrufern zu einer falschen Einschätzung der Lage führen. Auch weil kein anderer Ansprechpartner wie ein vertrauter Nachbar oder ein enger Verwandter in der Nähe sind, wenn man sich plötzlich schlecht fühlt. Da fehlt das „soziale Gefüge“, so Frau Walk.

Das ist die eine Seite, die andere: „Es gibt auch Menschen, die akut lebensbedrohlich erkrankt sind und sich dreimal dafür entschuldigen, dass sie uns stören“, erzählt die Notärztin. Sie weiß, dass sie meistens wirklich gebraucht wird. Für sie gilt ohne Wenn und Aber: „Ich bin lieber einmal zuviel als zu wenig beim Patienten.“ Sagt auch die Feuerwehr. „Wenn jemand den Notruf wählt, dann ist er in einer Situation, in der er sich selbst nicht zu helfen weiß. Und genau für diese Fälle ist 112 wichtig“, so der leitende Branddirektor Bogdahn.

Erste-Hilfe-Kurs zur Pflicht machen

Wo definitiv keine bedrohliche Situation vorliegt, sollte der Ärztliche Notdienst verständigt werden, sagt der DRK-Sprecher Christian Kuhlmann. „Die Hotline 116117 ist aber zu wenig bekannt.“ Auch würde die Auffrischung der Erste-Hilfe-Kenntnisse dazu beitragen, besser einschätzen zu können, welche nächsten Schritte zu tun sind.

Nicht nur das. „Die Erste Hilfe kann entscheidend sein, wenn der Rettungssanitäter oder Notarzt noch nicht da sind“, betont Claudia Walk. Sie plädiert energisch dafür, dass jeder Bürger in regelmäßigen Abständen einen Erste-Hilfe-Kursus absolviert. Feuerwehr-Chef Ulrich Bogdahn geht da noch einen Schritt weiter: „Das sollte zur Pflicht gemacht werden – und das sollte schon im Grundschulalter beginnen und später alle vier Jahre wiederholt werden.“

Weil jeder ein Lebensretter sein kann.