Essen. Die Situation am Essener Hauptbahnhof hat sich entspannt. Ein Streit hat die Szene gespalten. Dies ist eine Erkenntnis aus dem gestrigen Treffen von Stadt, Polizei und Hilfsorganisationen, die die Entwicklung genau beobachten.

Die Bahnhofsmission hat’s nachgemessen: Exakt 17 Grad Celsius warm ist die Luft, die aus den Schächten am Südausgang des Hauptbahnhofs strömt. Im Winter sind das wohlige Temperaturen für Menschen, die eine Schneedecke im Freien einem warmen Bett in der Notübernachtung an der Lichtstraße immer vorziehen würden. Für herkömmliche Hilfen sind manche einfach nicht empfänglich: Tag für Tag, Nacht für Nacht campieren deshalb einige Wohnungslose wie auf stählernen Präsentier-Gittern vor dem Eingang von Essens größtem Verkehrsknotenpunkt. Sie sorgen für Ärger, sie erwecken Mitleid, sie halten die sozialen Hilfesysteme, die Polizei und das Ordnungsamt, das mittlerweile täglich vorbeischaut, seit Oktober auf Trab. Anfangs war es ein Dutzend, seit wenigen Tagen sind es vielleicht noch fünf Menschen, die dort Platte machen.

Doch keine neue Strategie hat die Szene zerstreut, sondern ein Streit untereinander. Ein Teil der Wohnungslosen ist ein Häuschen weitergezogen und trifft sich jetzt in der Nähe des Bismarckplatzes. Dies ist eine der Erkenntnisse eines gestrigen ersten Treffens von Vertretern der Stadt, der Polizei und der Hilfsorganisationen, die „die Klientel am Hauptbahnhof genauestens kennen“, sagt Sozialamtsleiter Hartmut Peltz. Und um die Entwicklung wissen, die zu den seit Herbst bekannten Problemen geführt hat: Vor allem aus Polen zugewanderte Arbeitssuchende, die keinen Job fanden, durch alle Sozialsysteme rutschten und schließlich auf der Straße landeten, machten sich zunehmend am Hauptbahnhof breit. Erst fühlte sich die eingesessene Szene zu ihnen hingezogen. Doch es setzte ein Verdrängungseffekt ein, es waren Gewalt, Aggressionen, Erpressungen der „Essener“ Wohnungslosen durch die Zugewanderten an der Tagesordnung.

Klima der Angst

„Es gab ein Klima der Angst durch das Verhalten einer Kerngruppe, die sich nicht an Regeln halten will“, sagt Peltz. Doch bleibe die Situation so überschaubar, wie sie derzeit sei, sieht der Sozialamtsleiter weder neue Hilfsnotwendigkeiten noch einen Grund zur massiven Auflösung der Szene: Gute Hilfsangebote gebe es in Essen genug – und selbst im Winter sind in der Notübernachtung an der Lichtstraße noch Betten frei. Auf fünf Wohnungslose, die auf der Straße leben, kommen etwa 60, die Tag für Tag die Sozialberatung an der Maxstraße aufsuchen, um vielleicht doch noch den Sprung in eine eigene Wohnung zu schaffen.

Nicht ohne Grund versuchen die Hilfsorganisationen, die Menschen über Angebote wie Duschmöglichkeiten, Kleiderkammer oder Gutscheine für Kaffee und Brötchen möglichst eng an sich zu binden. Nach Jahren einer nachweislich erfolgreichen Arbeit wird das derzeitige verstärkte Engagement von einigen Ehrenamtlern deshalb durchaus kritisch hinterfragt: Wer die Betroffenen an ihren angestammten Treffpunkten regelmäßig mehr als mit dem Nötigsten versorgt, verfestigt die Szene nur und hält sie letztlich von institutionellen Hilfsangeboten und dem erklärten Ziel fern, sie weg von der Straße zu bringen. „Wir werden jetzt auf die Ehrenamtlichen zugehen“, kündigte Hartmut Peltz an. Ziel sei es, Informationen untereinander auszutauschen und bereits existierende Hilfsangebote vorzustellen.

Einblicke in eine Parallelwelt

Rund 1.400 Klienten zählte allein die Beratungsstelle für Wohnungslose auf der Maxstraße im vergangenen Jahr. Tendenziell mehr als in den Jahren davor. Doch die Zahlen sind nur bedingt aussagekräftig, wie die Leiterin der Einrichtung, Petra Fuhrmann erklärt. „Manche Klienten kommen zwei, drei Mal und dann sehen wir sie nie wieder. Andere brauchen Jahre, bis sie sich langsam öffnen und für weitere Hilfsangebote bereit sind.“ Überhaupt lassen sich Wohnungslose nur schwer statistisch erfassen. Der Großteil kommt zwischenzeitlich bei Freunden und Verwandten unter, 41 Personen leben dauerhaft in der Notunterkunft auf der Liebrechtstraße. Platz gibt es für 58 Übernachtungsgäste. Sogar unter denen, die eine Obdachlosenzeitung verkaufen, gibt es so manchen, der eine feste Bleibe hat.

„In Essen schlafen 19 Menschen tatsächlich auf der Straße“ berichtet Bernhard Munzel, Sprecher des Diakonischen Werks. „Die meisten Leute hangeln sich so durch. Manche entziehen sich aber bewusst dem Leben in vier Wänden.“ Die Gründe dafür sind vielfältig: Drogensucht, Alkohol, psychische Erkrankungen, negative Erfahrungen aus vorherigen Mietverhältnissen. Viele haben nie gelernt, selbstständig einen Haushalt zu führen und sind mit der eigenen Bude überfordert. Gerade unter den weiblichen Klienten gibt es aber auch einige, die geschlagen oder sexuell missbraucht worden sind, weiß Petra Fuhrmann.

Männer warten auf Arztbehandlung

In der Suppenküche der Beratungsstelle sieht man daher größtenteils Männer. Die meisten Frauen essen ein paar Räume weiter. Für 1,10 Euro gibt es heute einen deftigen Eintopf. Dazu ein Getränk, später noch einen Pudding und Kaffee. 60 bis 80 Essener kommen täglich zur Suppenküche. Einige wollen sich auch nur in Ruhe aufwärmen oder suchen jemanden, der ihnen zuhört. Kurz nach 11 Uhr wandern die ersten Klienten gemächlich zur Ausgabe. Eigentlich beginnt das Mittagessen erst um halb zwölf, aber ganz so genau nehmen es die ehrenamtlichen Mitarbeiter dann doch nicht.

„Guten Morgen, Frau Fuhrmann“, sagt ein Wohnungsloser freundlich. Die Leiterin der Einrichtung grüßt zurück. Der Klient hat sich gerade von einem Arzt behandeln lassen. Draußen parkt das Arztmobil, einige Männer stehen davor und warten darauf, dass sie an die Reihe kommen. Die medizinische Behandlung ist hier kostenlos. Viele Wohnungslose haben keine Krankenversicherung und trauen sich aus Scham nicht in ein Krankenhaus. Nebenan werden jährlich 50.000 Kleidungsstücke verteilt.

Über menschliche Bedürfnisse

Einige Dienstleitungen gibt es in der Beratungsstelle nicht umsonst. Tee und Kaffee kosten 20 Cent, Wäsche waschen kann man ebenfalls für einen kleinen Betrag. „Es ist gut, wenn die Klienten ein gewisses Einkaufserlebnis haben und die Dinge wertschätzen“, sagt Sozialpädagogin Petra Fuhrmann. „Wenn jemand gar kein Geld hat, geben wir auch mal so etwas zu essen, aber eigentlich hat das keiner nötig.“ Tatsächlich beziehen fast alle Wohnungslosen Arbeitslosengeld II und damit knapp 400 Euro pro Monat.

Theoretisch müsste es also keine Wohnungslosen in Essen geben, findet Fuhrmann. Doch viele seien nicht zugänglich für Hilfe. Eine Klientin habe ein halbes Jahr gebraucht, bis sie ihren Namen preisgegeben hat. Andere beziehen eine Wohnung, verlieren sie aber kurz darauf wieder, weil sie sich Ärger mit den Nachbarn einhandeln und in alte Muster verfallen. „In Holsterhausen kenne ich eine Frau, die nicht in geschlossenen Räumen sein kann. Die kommt ganz gut durch, weil die Infrastruktur im Viertel stimmt. Der Bäcker gibt ihr was, manchmal der Metzger. Einige kommen erst zu uns, wenn es aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr geht.“

Wohnungslose können keine Vorräte anlegen

In der Maxstraße gibt es auch so genug zu tun. In den Büros im Erdgeschoss, werden im Minutentakt Beratungsgespräche geführt. Manche Klienten wollen ihre Papiere in Ordnung bringen. Die meisten kommen aber, um ihre Post abzuholen, wie eine Mitarbeiterin erklärt. „Es gibt durchaus Wohnungslose, die haben ein Handy, manche haben auch einen Laptop oder ein Auto – zumindest für den Moment“, ergänzt Petra Fuhrmann. „Man steht oft schneller auf der Straße als man denkt, gerade wenn eine Beziehung auseinander geht.“ Einige kaufen sich von ihrem Geld Karten fürs Fußballstadion fürs Kino. „Die haben die gleichen Bedürfnisse wie andere Bürger dieser Stadt auch“, so Fuhrmann.

Dass es mit dem Geld in den meisten Fällen nicht so richtig klappt, liegt aber meistens an Suchterkrankungen und am Leben auf der Straße selbst. „Da Wohnungslose keine Vorräte anlegen können, müssen sie sich täglich versorgen. Das ist natürlich teuer“, sagt Bernhard Munzel. Ein spezieller Dauergast an der Maxstraße trinkt täglich 30 Flaschen Bier. Andere kaufen sich von ihrem Geld Drogen, viele haben Schulden.