Essen. Vor 14 Jahren hat Judith Neumann eine neue Leber bekommen. Jetzt ist sie ein Gesicht der Plakatkampagne, die für Oganspende-Ausweise wirbt.
Ihr fester Platz im Kreise ihrer Familie: leer. Ihr Bürostuhl im Sozialamt: leer. Dieses Gespräch mit der Borbeckerin im Uniklinikum: nicht möglich. Wenn Judith Neumann, 46, vor 14 Jahren keine neue Leber bekommen hätte, wäre sie heute nicht mehr da. „Ich wäre tot. So einfach ist das leider.“ Judith Neumann gehört zu einer neuen Plakatkampagne, mit der die Initiative „Essen forscht und heilt“ Menschen überzeugen will, einen Organspende-Ausweis zu tragen.
Wo sonst oft Schwerkranke abgebildet werden, zeigt das Plakat 17 lächelnde Essener und den Satz: „129 geschenkte Lebensjahre.“
Ihr Leben stand auf der Kippe
Judith Neumann gehört zu den lächelnden Menschen. Auch ihr wurde dank einer Organspende und einer Transplantation ein neues, ein zweites Leben geschenkt. „Der 3. Juli, der Tag der mehrstündigen Operation, ist für mich bis heute mein zweiter Geburtstag.“ Damals, im Juli 2001, stand ihr Leben auf der Kippe. Die Beschwerden hatten Monate vorher, vergleichsweise harmlos, mit einem geschwollenen Bauch angefangen. Der Blinddarm wurde entfernt. Massive Schmerzen blieben. Intensive Untersuchungen ergaben, dass sie unter einer Leberzirrhose leidet. Das Budd-Chiari-Syndrom wurde diagnostiziert und in der Folge drohte ein Leberversagen.
„Zu den Ursachen konnte man nichts Genaues sagen.“ Aber wie wichtig sind die auch, wenn man erfährt, dass der Verlauf tödlich endet? Ihr Zustand verschlechterte sich rapide, womit sich die Chance verbesserte, ein neues Organ zu bekommen. Akute Fälle rücken auf der Spenderliste nach oben. Judith Neumann hatte in letzter Minute Glück. Als das neue Organ kam, war sie schon nicht mehr ansprechbar. Der Tod eines anonymen Mannes aus Süddeutschland rettete ihr Leben: Er war bei einem Autounfall gestorben.
Acht Organspender 2013
Dr. Stefan Becker kennt viele solcher Geschichten von Leben und Tod, vom Schicksal, das zwei unbekannte Menschen für immer miteinander verbindet. Und doch muss der Transplantationsbeauftragte des Uniklinikums immer noch tief durchatmen. Er kennt auch die Fälle von schwerkranken Menschen, die vergeblich auf ein rettendes Organ gewartet haben. „Deshalb ist es wichtig, dass wir noch mehr Menschen helfen können.“ Die Zahl der Organspender hat nach den Transplantions-Skandalen der Vorjahre abgenommen. Damit erhöhen sich die Wartezeiten auf ein Organ. Laut Statistik besitzen zwar gut 30 Prozent der Bürger einen Organspender-Ausweis. Das Problem: Von den rund 800 000 Menschen, die pro Jahr in einem deutschen Krankenhaus sterben, erfüllen aus medizinischer Sicht weniger als 0,5 Prozent – also unter 4000 – die Kriterien für die Entnahme, zu denen unter anderem der Hirntod gehört. Liegt dann ein Spenderausweis vor? Und sind die Organe überhaupt geeignet? So gab es im vergangenen Jahr am Uniklinikum Essen, das ein Transplantationszentrum in der Region ist, acht Organspender (2013: fünf).
„Die Zahl könnte erhöht werden“, ist sich Stefan Becker sicher. Durch Information, durch Aufklärung. „Wir wissen, dass gut informierte Menschen eher den Organspende-Ausweis ausfüllen und bei sich tragen.“ Außerdem wirbt der Arzt darum, frühzeitig eine entsprechende Entscheidung selbst zu treffen. Und nicht von Angehörigen treffen zu lassen, die zum Beispiel am Krankenbett eines Unfallopfers unter besonderem Druck stehen.
Das Treffen mit Judith Neumann vereinfacht die Entscheidung für die Organspende: Sie hört neugierig zu, sie lächelt. Sie lebt. Die 46-Jährige muss zwar acht Medikamente am Tag nehmen, sie darf weder rohen Fisch noch rohes Fleisch essen. Aber was heißt das schon, wenn man dafür ein neues Leben geschenkt bekommen hat?