Essen. . Kinder in Essen sind zunehmend gefährdet. Zum 25. Jahrestag der Kinderrechte-Konvention schlägt der Kinderschutzbund Alarm und fordert eine Verankerung der Positionen im Grundgesetz. Nur so könnten die vielfältigen Herausforderungen gemeistert werden.

Geht’s um die Kleinen, sind sie groß im Geschäft. Die Experten des Kinderschutzbundes in Essen haben ein Drittel der 86.000 Kinder und deren Lebenswelten in dieser Stadt professionell im Blick. Umso schwerer wiegt ihr alarmierendes Urteil: Kinder sind zunehmend gefährdet, sagt Ulrich Spie, Vorstandsvorsitzender des Ortsverbandes, anlässlich des heutigen 25. Jahrestags der UN-Kinderrechtekonvention, die nach wie vor „weder im Grundgesetz noch in den Köpfen“ verankert ist. Was aus Sicht des Kinderschutzbundes allerdings nötiger wäre denn je.

Trotz aller Anstrengungen: „Die Lebenssituation und Zukunftsperspektiven vieler Kinder in dieser Stadt haben sich verschlechtert statt verbessert“, kritisiert Spie. Dies gelte sowohl für Bildungschancen als auch für ein glückliches und gewaltfreies Heranwachsen gleichermaßen.

Weniger Abschlüsse, massivere Gewalt

Nicht alle Zahlen, die die Abwärtsspirale umschreiben, sind neu. Doch sie sind immer wieder aufs Neue alarmierend: Jedes vierte Kind, das in den nördlichen Stadtteilen aufwächst, nimmt nicht an den Untersuchungen zur Früherkennung teil – mit allen erdenklichen Folgen für Gesundheit, Motorik und letztlich das gesellschaftliche Fortkommen. Massive Entwicklungsdefizite fallen meist erst bei den Schuleingangsuntersuchungen auf.

Zwei Drittel des Nachwuchses sind abhängig von staatlichen Transferleistungen, häufig mit direkten Auswirkungen auf Lebensperspektiven. 437 Jugendliche beendeten im vergangenen Jahr ihre Schullaufbahn ohne jeden Abschluss. Das waren 100 mehr als noch im Jahr zuvor. „Diese Jugendlichen haben kaum eine Chance auf einen Ausbildungsplatz und gesellschaftliche Teilhabe“, so Spie: „Es gibt weniger Schulabschlüsse, und es gibt deutlich mehr und massivere Gewalt. Das muss doch gesellschaftspolitisch nervös machen.“

Zu wenige Plätze im Spatzennest

Insbesondere dann, wenn es um Leib und Leben besonders junger Menschen geht: 447 mussten im vergangenen Jahr in Obhut genommen werden, um sie ausgerechnet vor jenen Menschen zu schützen, die ihnen am allernächsten sein sollten. Doch sie sind es allenfalls räumlich, nicht emotional. Jedes dritte Kind davon war noch nicht einmal drei Jahre alt. Spie spricht von einer „extremen Kindeswohlgefährdung“.

In der Notaufnahme Spatzennest landeten im vergangenen Jahr 79 vernachlässigte und misshandelte Jungen und Mädchen. In diesem Jahr sind es bereits 60. Über die Hälfte war jünger als sechs Jahre. Wie groß „das Gewaltpotenzial und die Brutalität, die keine Grenzen mehr kennt“, so Spie, inzwischen aber tatsächlich sind, zeigt eine ganz andere Zahl: Da die Einrichtung über nur 20 Plätze verfügt, konnten 156 Kinder, die vor ihren Eltern, vor ihrem Vater oder ihrer Mutter geschützt werden mussten, erst gar nicht aufgenommen werden.

Förderung in Sprache und Bildung 

Heike Pöppinghaus, Leiterin der Abteilung Kinderschutz, kennt die Gründe: Gefährdete Familien stehen zunehmend allein da, ohne soziale Bindungen, die ihnen Halt geben könnten. Oft neigen jene Eltern zu Gewalt, die selbst in „Mangelsituationen aufgewachsen“ sind. Zu den bekannten Risikofaktoren der empfundenen Überforderung durch das Kind kommen höhere Belastungen im Alltag, die gemeinsam in eine nicht selten gefährliche Krise führen. Immer mehr rufen um Hilfe: 1200 Beratungs-Anfragen von Eltern registriert der Kinderschutzbund pro Jahr. Allein die Erziehungsberatungsstelle kommt in diesem Jahr auf 207 Neuanmeldungen, und bei jeder fünften war eine Kindeswohlgefährdung der Anlass.

Dabei haben sich viele ein Baby gewünscht in der Hoffnung, dann sei alles wunderbar, sagt Pöppinghaus: „Damit sind Illusionen verbunden.“ Werden die von der Realität eingeholt, etwa, wenn Kinder anstrengend werden, fallen die Eltern in ein tiefes Loch, sind enttäuscht und frustriert, wenn ihnen niemand hilft. „Dabei haben wir die Angebote, wir müssen nur die Zugänge verbessern.“

Was insbesondere für eine steigende Zahl von Flüchtlingskindern gilt. Die gelte es unbedingt zu fördern in Sprache und Bildung. „Auch sie sind unsere Zukunft“, sagt Spie, der der Stadt, dem Land und dem Bund bescheinigt, auf die Folgen der Weltkrisen nicht vorbereitet zu sein. Jene 300 zusätzlichen Lehrer, die die Landesregierung jüngst ankündigte, sind für Spie allenfalls ein „Etikettenschwindel“.

Rechte müssen zur Pflichtaufgabe werden

Um solche Augenwischerei zukünftig zu vermeiden, müsse das Anrecht auf Deutschunterricht, auf Entwicklung, auf Förderung und Bildung – eben all das, was in der Kinderrechte-Konvention weitgehend von inhaltlicher Bedeutung, aber in folgenloser Schönheit festgeschrieben ist – endlich im Grundgesetz verankert und somit zur Pflichtaufgabe werden. Nur dann, so Spie, stehen gleiche Bildungschancen nicht mehr zur Disposition, nur weil eine strukturell schwache Kommune vor lauter Sozialausgaben kein Geld mehr für freiwillige Leistungen hat.

Dass es häufig nur über gesetzliche Vorgaben geht, habe sich nach der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für unter Dreijährige gezeigt. „Noch stimmt das Betreuungsangebot zwar nicht, doch wir sind auf einem guten Weg“, sagt Spie: „Die Weichen sind gestellt.“ Aber erst durch den Rechtsanspruch sei Zug in den Ausbau gekommen. „So lange wir keinen Rechtstitel für Kinder haben, sind wir immer zweiter Sieger.“