Dinslaken. . Die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor gibt seit zehn Jahren islamischen Religionsunterricht in Deutsch. Sie gilt als Galionsfigur des liberalen Islam. Dennoch musste sie erleben, dass fünf ihrer früheren Schüler aus Dinslaken in den Dschihad zogen. Wir haben sie besucht.
„Der Salafismus ist eine Jugendbewegung geworden“, sagt die muslimische Religionslehrerin Lamya Kaddor. Sie, die als Galionsfigur des liberalen Islam in Deutschland gilt, unterrichtet seit Jahren muslimische Kinder in Dinslaken. In jener Stadt, in der sich junge Salafisten zur sogenannten „Lohberger Brigade“ ballten. Ein Dutzend Freiwillige sollen von dort aus in den Dschihad gezogen sein, in den vermeintlich „Heiligen Krieg“. Darunter auch fünf Schüler von Lamya Kaddor. Ein Besuch bei ihr in der Dinslakener Sekundarschule.
Mit Elf-, Zwölfjährigen über Themen wie Würde und das Recht auf körperliche Unversehrtheit zu reden, ist ein ambitioniertes Vorhaben. Lamya Kaddor hat sich für diese Doppelstunde in der 6a einiges vorgenommen. 28 Kinder, Mädchen und Jungen, alles Muslime, sitzen ziemlich aufgequirlt vor ihr und zermartern sich das Hirn. „Also Tayfun*, warum zeigt man im Fernsehen keine Menschen, die sterben?“, fragt Kaddor.
Es geht um Würde, um Stolz, um Privatheit. Darum, dass Tayfun es auch nicht gerne sehen würde, wenn sein eigener Großvater beim Sterben gefilmt würde. Und am Ende landet Lamya Kaddor beim Krieg in Syrien, bei den IS-Terroristen, „die ihren Geiseln, unschuldigen Menschen, vor laufender Kamera die Kehle durchschneiden“. Bei den Menschen in den deutschen Flüchtlingsheimen, die von Wachleuten erniedrigt werden. „Die Kinder“, sagt die 35-jährige Lehrerin, „kennen diese Bilder alle.“
Kaum Freizeitangebote für Jugendliche
Seit zehn Jahren unterrichtet die in Deutschland geborene Tochter syrischer Eltern islamische Religion in deutscher Sprache. „Mir geht es darum, sie zu religionsmündigen Menschen zu erziehen“, sagt Kaddor, „ihnen zu vermitteln, dass das Grundgesetz nicht im Widerspruch zum Islam steht.“
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Auch jene Fünf, die im Frühjahr 2013 nach Syrien gingen, die im Dschihad kämpfen wollten, hat Lamya Kaddor unterrichtet. Und es war ein Schock für sie, davon zu erfahren. „Bei allen hat es mich gewundert, es war nicht abzusehen. Sie waren sehr normal, sehr weltlich. Keiner zeichnete sich durch Frömmigkeit aus!“, sagt sie.
"Integrationspolitik ist gnadenlos gescheitert"
Der Schock hat sie nicht davon abgehalten, weiter zu unterrichten. Und kaum jemand kennt die Situation muslimischer Jugendlicher so gut wie sie. Die der jungen Leute aus Dinslaken ohnehin. Der „Lohberger Brigade“, wie sie inzwischen genannt wird, um Leute wie Philip B., der kürzlich bei einem Selbstmordattentat gestorben ist, wie Mustafa, der mit abgeschlagenen Köpfen für die Kamera posierte.
„In Dinslaken ist die Integrationspolitik gnadenlos gescheitert“, analysiert Kaddor. „Ich unterrichte die Schwächsten der Schwachen“. Der Stadtteil Lohberg sei isoliert, das Bergwerk geschlossen, und Ahmed wisse, dass er nicht die gleichen Chancen wie Andreas hat, erklärt die Lehrerin. Freizeitangebote für Jugendliche gebe es kaum und so drifteten viele dieser „testosterongesteuerten Jungs“ ab.
Ein Laienprediger füllte das Vakuum in Lohberg
Die Lohberger Brigade. Es heißt, ein Laienprediger habe die Jungen rekrutiert. Ein bisschen Fußballspielen, ein wenig über Religion sprechen. Er habe Angebote gemacht, wo sonst nichts stattfand. Er habe sich jene herausgepickt, die wenig stabil, die manipulierbar waren. Einige von ihnen kehrten zurück, mancher bereits nach Tagen. „Sie sind traumatisiert, stecken in einer Identifikationskrise. Man weiß nicht, wie sie sich entwickeln“, so Lamya Kaddor.
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Als Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes ist sie gefragt in diesen schwierigen Zeiten. Sitzt in Talkshows, gibt Interviews, erarbeitet das Präventionsprogramm „Muslim 3.0“. Vor allem aber unterrichtet sie islamische Religion in Deutsch. So wie eben jetzt in der 6a. „Wer von euch wurde schon mal geschlagen? Von einem Imam oder von den Eltern?“, fragt sie und kehrt zu ihrem Thema zurück, zum Recht auf körperliche Unversehrtheit.
Islamunterricht in Deutsch sorgt für die nötige Transparenz
Arme schnellen hoch, die Kinder erzählen ihre kleinen Geschichten. „Das ist in Deutschland verboten!“, erklärt ihnen die Lehrerin, was manchen erstaunt. „Auch, wenn ich richtig Scheiße baue?“ „Auch dann!“ Die 28 Kinder in Schach zu halten, ist kein Leichtes an diesem Tag. Da wird gequasselt, auf dem Stuhl gekippelt, und die kleinen Machos versuchen, sich in Szene zu setzen. Kaddor rüffelt, lässt sie zur Strafe Texte abschreiben, schickt einen gar aus dem Raum. Als sie den Unterricht beendet, für diesen Tag, sagt sie: „Es ist so wichtig, dass der Religionsunterricht in Deutsch stattfindet. Es verschafft Transparenz: Da findet nichts Geheimes statt.“
*Name geändert