Duisburg. Anlässlich der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien haben sich Forscher der Universität Duisburg-Essen mit verschiedenen Aspekten des Fußballs beschäftigt. Soziologie-Professor em. Dr. Hermann Strasser hat ein besonderes Augenmerk aufs Public Viewing gelegt.
Die Universität Duisburg-Essen hat sich anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft in ihrem Campus-Report mit verschiedenen Aspekten des Fußballs beschäftigt. Prof. em. Dr. Hermann Strasser hat sich unter anderem mit dem beliebten Public Viewing beschäftigt, welches heute Abend bestimmt auch wieder Tausende Duisburger vor die Großleinwände lockt.
Seit wann gibt es Public Viewing?
Hermann Strasser: Eigentlich gibt es das schon immer, wenn man auf die Wortbedeutung achtet. Mit „public viewing“ verbinden die Engländer die öffentliche Aufbahrung von Toten. Da kann man nur hoffen, dass das kein böses Omen ist, jedenfalls nicht für den wahren Fußballsport! Was wir hier darunter verstehen, das Rudelgucken, ist natürlich eine Folge der Globalisierung und der zunehmenden Mobilität, aber auch der Gier nach Aufmerksamkeit, der technischen Entwicklung und damit der Vermarktungschancen. Vorläufer waren die TV-Übertragungen in der Kneipe, weil es dort einfach gemütlicher war oder es zuhause noch keinen Fernseher gab. Public Viewing ist aus einer konkreten Not entstanden, nämlich weil die Eintrittskarten bei der Fußball-WM 2006 begrenzt waren.
Es heißt, dass Menschen digital vereinsamen. Andererseits rennen sie zu Massenveranstaltungen. Was sagt das aus?
Strasser: Wir haben es in der Tat mit einem Wandel der Gewohnheiten zu tun. In den letzten Jahrzehnten haben traditionelle Institutionen wie Familie, Schule, Kirche und politische Partei sowie die soziale Schicht an Orientierungskraft verloren. Nur: Der Mensch braucht Sinn, den er vermehrt in Freundeskreisen, beruflichen Netzwerken und virtuellen Gemeinschaften sucht. Vor allem junge Leute finden ihn in medial gesteuerten Ereignissen mit emotionaler Aufladung wie dem Weltjugendtag, der Fußball-WM, dem Eurovision Song Contest, aber auch bei politischen Events und Katastrophen. So ergibt sich eine gefühlte Zusammengehörigkeit.
…gefühlt, aber nicht echt?
Strasser: Diese emotionalen Gemeinschaften sind meist nur von kurzer Dauer, ohne Bindungswirkung, daher auch prekärer. Die Menschen wollen nicht gemeinsam einsam sein, sie sind es aber, weil das kollektive Erleben kurz und zufällig ist. Deshalb müssen sie mehr kommunizieren, über soziale Netzwerke die ganze Welt teilhaben lassen und mit dem Handy alles in Echtzeit festhalten.
Sie sagen, Public Viewing habe mit der Festivalisierung der Alltagskultur zu tun. Was meinen Sie damit?
Strasser: Soziologisch gesehen leben wir heute in einer multiplen Gesellschaft, nämlich zugleich in einer individualisierten und globalisierten wie Kommunikations- und Mediengesellschaft. Durch mehr Bildung, Einkommen und Mobilität orientiert sich der Mensch stärker nach außen. Nicht mehr Gott, die Natur oder andere Mächte geben seine Handlungen vor, sondern das Individuum bestimmt seinen Lebensweg und seine Lebensweise weitgehend selbst. Das heißt aber auch, dass der Mensch sich ständig neu identifizieren muss. Und solche emotionalen Vergemeinschaftungen, wie sie auch beim Public Viewing entstehen, lassen ihn diese Einheit von Individuum und Gesellschaft erfahren. Allerdings muss er, nachdem dieses Gefühl abgeklungen ist, einen neuen Anlass für die kollektive Erregung suchen. Und da spielt die Festivalisierung der Alltagskultur eine wichtige Rolle.
Was unterscheidet den Public Viewer vom Stadiongänger?
Strasser: Für den echten Fan ist Fußball ein sinnstiftender Lebensinhalt und für viele eine Ersatzreligion: Allein der Weg zum Stadion ist einer Prozession ähnlich, mit Reliquien wie Trikots, Fahnen und Schals; Gesänge werden angestimmt. So manche Rituale des Aberglaubens feiern fröhliche Urständ’. Ekstase ist erwünscht. Nur bei wahren Anhängern kommen die Schweigeminute, das rhythmische Klatschen und das Singen der Clublieder einer transzendenten Erfahrung gleich. Das Magazin „Schalke Unser“ auf dem Küchentisch zeigt, dass das Fan-Sein und die Treue zum Verein auch im Alltag wichtig sind. Ebenso die regionale Verankerung und die damit verbundenen Freunde. Der echte Fan hat seinen Verein, die Nationalmannschaft zum Gott erkoren. Fußball ist Teil seiner Identität. Er ist nicht wie der Public Viewer auf der Suche nach Identifikation.
Was will der genau?
Strasser: Die Public Viewer feiern sich vor allem als Zuschauer selbst. Sie wollen dort sein, wo ihre Freunde und Bekannten sind, und an einer Party teilnehmen. Es sind vor allem junge Leute; die Älteren ziehen eher das Wohnzimmer vor oder gehen zum Rudelgucken, wenn der eigentliche Zweck der Veranstaltung ein ganz anderer ist – nämlich ein Sommerfest oder der Geburtstag.
Was stört Sie an diesem öffentlichen Miteinander?
Strasser: Da die Leinwände oft mit Werbung dauerberieselt werden und die Bildauswahl vom Veranstalter bestimmt wird, ist die Gefahr groß, dass sich das Public Viewing in Public Relations verwandelt – für die beteiligten Städte, Vereine, Nationen und Produkte und vor allem für die FIFA. Nicht Fankultur, sondern Eventkultur steht dann im Vordergrund, das heißt, das Erlebnis verdrängt die Bedeutung.
Public Viewing - die neue Kirche?
Sie sagen, große Turniere würden auch zu einer Liturgie hochstilisiert. Inwiefern?
Strasser: Spieler wie David Beckham, Lionel Messi, Cristiano Ronaldo oder Arjen Robben haben den Fußball zu einem Pop-Phänomen gemacht. Fangruppen, so genannte „boy groups“, ziehen immer mehr Mädchen und Frauen an. In den Stadien werden nicht nur die Helden des Spiels verehrt. Gelegentlich werden sie auch zu Ersatzkirchen, wie beim Abschied von Nationaltorwart Robert Enke. Hier könnte man kritisch anmerken, dass die Aufmerksamkeit heischende Prominenz, die Fans und Zuschauer sich über die angemessene Form der Trauer hinwegsetzten und die Feier zu einer billigen Erregungsgemeinschaft des totalen Entertainments werden ließen. Andererseits: Bei einem Spiel mitzufiebern, lässt Emotionen entstehen. Und heißt es nicht: Geteilte Freude ist doppelte Freude, geteiltes Leid ist halbes Leid? Kein Wunder, dass anlässlich der WM 2010 sage und schreibe 2.000 evangelische Gemeinden zum Fußballgottesdienst eingeladen hatten, natürlich mit Leinwand. Gott ist rund – da sollte eigentlich nichts mehr schiefgehen, oder?
Was halten Sie von dem Satz, Public Viewing sei die neue Kirche.
Strasser: Soziologen sprechen nicht ohne Grund von der „Rückkehr der Religionen“, aber im Sinne einer öffentlichen Politisierung und Eventisierung. Die Kirchen nutzen das Public Viewing, um Mitglieder zu werben und an sich zu binden. „Eine Kirche mit einer großen, gläubigen Gemeinde“ sieht der Schauspieler Ulrich Tukur übrigens auch im „Tatort“. Sicherlich ist diese Krimiserie viel besser besucht als eine Sonntagsmesse. Aber ob Tatort oder Public Viewing es zur neuen Kirche schaffen, ist mehr als fraglich.
Verliert der Fußball durch Public Viewing?
Strasser: Natürlich hat es die traditionelle Fankultur in Verlegenheit gebracht. Allerdings begann lange vorher schon die Werbung um neue Anhänger: durch neue Formate, Showeffekte und ausführliche TV-Übertragungen privater Sender; zudem gibt es moderne Multifunktionsarenen, die Vereine haben VIP-Räume eingerichtet und das Merchandising eingeführt. Die Großen der Bundesliga und Verbände wie FIFA oder DFB haben sich zu eigenständigen Akteuren einer Inszenierung gemausert. Da liegt der Verdacht nahe, dass die Fans nicht mehr sind als willfährige Kunden. Ob der Fußball verliert oder gewinnt, hängt meines Erachtens aber nicht vom Public Viewing, sondern davon ab, was sich in den Stadien tut.
Das heißt?
Strasser: Natürlich haben diese Entwicklungen auch neue Zuschauer ins Stadion und vor die Leinwände gebracht: Jetzt sind neben Vater und Sohn auch Mama, Schwester, Oma, Freundin und Geschäftsleute dabei. Nicht immer zum Nutzen des Sports und zur Freude am Fußball! Noch macht der ehrliche Fan das Match zum lustvoll-freudigen oder leidig-traurigen Erlebnis. Er will zum Erfolg der Mannschaft beitragen, er versteht sich als mündiger Mitgestalter des Gesamtkunstwerks Fußball. Ohne ihn gäbe es in den Kurven keine Stimmung. Ob das die Sesselpupser in den VIP-Lounges auf Dauer ausgleichen könnten, bezweifle ich.
Klingt, als seien Sie echter Fußball-Fan?
Strasser: Ja, aber inzwischen eher ein sanfter. In den ersten Jahrzehnten meines Lebens war ich Fan von Austria Salzburg und von Rapid Wien, bevor mich der MSV Duisburg ab 1978 in seinen Bann zog.
Waren Sie schon mal beim Public Viewing?
Strasser: Ja, natürlich, aber nicht, um ein Fußballspiel zu sehen, sondern um in der Uni oder bei Vereinen wie dem Deutsch-Amerikanischen Freundeskreis einen besonderen Anlass zu feiern.
Wie fanden Sie das kollektive Mitfiebern?
Strasser: Ich habe selbst nur zeitweise auf die Leinwand geschaut – wie viele. Am Brandenburger Tor dürfte es emotionaler zugegangen sein.
Wem drücken Sie als Österreicher bei der WM die Daumen?
Strasser: Für Deutschland ist bei uns meine Frau zuständig, die Berlinerin ist. Ich schwanke meistens zwischen der Mannschaft, die am besten spielt, und der, die schwächer ist.