Duisburg. Der Duisburger Stadterzähler Kurt Walter erinnert sich an Heiligabend im Jahr 1947 und wie es zum ersten Mal Apfelsinen gab. Die Schmuggelbeute wurde damals gegen drei Fichtenzweige getauscht.

In einer Zeit, als Geld keine Rolle spielte, aber Hamstern und Schwarzmarkt gang und gäbe waren, also Dezember 1947, warteten mein Bruder und ich am Heiligen Abend sehnsüchtig auf die Rückkehr unserer Mutter von einer Schmuggelfahrt an die belgische Grenze.

Gegen unsere Gewohnheit waren wir schon lange vor dem Dunkelwerden vom Spielen heim in die kleine Dachwohnung gekommen, hockten vor dem Herd und guckten ins Ofenloch. Und dann, endlich: „Da bist du ja, Mama!“ Aber sie packte nicht die Taschen aus, sondern kochte nur rasch eine Suppe und schickte mich nach dem Essen ins Bett, das ich mit meinem Bruder teilte, in der winzigen Kammer am Ende des Flures. Heute ging ich gern in Vorfreude auf die Weihnacht ins Bett.

Gedicht von Eichendorff

Mutter hatte es trotz der langen Fahrt auf Güterzügen geschafft, etwas von ihrer Schmuggelbeute gegen drei Fichtenzweige einzutauschen. Nur, wie wurde daraus etwas, das nach einem Baum aussah? Sie schickte meinen Bruder, gerade sieben Jahre alt und verwegen wie Störtebecker, mit dem großen Suppentopf an den Pootbach, um Sand und Kiesel zu holen. Sie nahm kurzerhand den Besenstiel, sägte ihn auf der Hälfte durch, steckte ihn in den mit Sand gefüllten großen Topf, umwickelte den Stock mit Stanniol, band die Zweige daran und fertig war ein feiner Weihnachtsbaum.

Als ich am anderen Morgen noch im Dunkel in die Küche gerufen wurde, strahlte mir ein echter Weihnachtsbaum mit fünf Kerzen entgegen. „Ohh! Am Tannenbaume die Lichter brennen“, sangen wir.

Mein Bruder stellte sich vor uns hin und sprach: „Markt und Straßen stehn verlassen/ Still erleuchtet jedes Haus/ Sinnend geh ich durch die Gassen/ Alles sieht so festlich aus.“ Ich war beeindruckt: was der erlebt hatte und wie schön er das sagen konnte! Dass er ein Gedicht von Eichendorff gelernt hatte, ahnte ich nicht.

Unter dem Baum lag, fast so bunt wie ein dickes Osterei, ein hellroter, schöner Ball. „Ist das was zum Essen oder zum Schießen, hmm, Fußballspielen?“ fragte ich meine Mutter. Sie lachte. „Zum Essen, aber...“ Sie konnte den Satz nicht vollenden, da hatte ich schon reingebissen. „Bohh! Ist das bitter“, rief ich enttäuscht, spuckte das Zeug aus und fing an zu weinen. Sie nahm mich in den Arm und tröstete mich

Tante Fine hatte Courage

„Die musst du erst schälen. Dann schmeckt sie süß.“ Und während sie das Ding abschälte, erklärte sie mir: „Das Christkind hat diesen Ball aus Amerika gebracht; er heißt dort Apfelsine.“ Ich fragte: „Apfelsine?“ Abends erzählte Mutter dann: „Das Christkind hatte eine Helferin, Tante Fine.“ Die hatte Courage, in der Zeit, als die Männer tot oder in Gefangenschaft waren, stand sie mit roter Mütze und in Reitstiefeln auf dem Bahnsteig und regelte als Bahnhofsvorsteherin den Verkehr, manchmal zu unseren Gunsten. Sie hatte eine ganze Kiste Apfelsinen, die für die Amis bestimmt waren, von einem Güterzug geklaut und an die Kinder zu Weihnachten verteilt. So lernten wir die Apfelsine kennen.

Geschichtenschreiberin Marianne Intveen Lindner über die Festtage 1944 

Hinter mit Pappe zugenagelten Fenstern saßen wir, meine Mutter und ich, in unserem beschädigten Haus und lauschten altvertrauten Weihnachtsliedern. Unser Radio war schadhaft, wie alles in diesem Kriegsjahr. Die Stimmen der Sänger klangen verschwommen. Wenn meine Mutter energisch auf das Gerät klopfte, konnten wir eine Weile deutlicher hören.

Zwei Kerzen, 1944 etwas Besonderes, gaben warmen Schein. Wir sagten nicht viel, denn unsere Gedanken wanderten zu unseren Brüdern an die Front. Ob sie auch irgendwie ein wenig Weihnachten haben konnten? Hafenarbeiter hatten mir einen Zuckersack vermacht. Ich riffelte ihn mühsam auf. Aus dem Garn wollte ich einen Pullover stricken. Meine Mutter nähte aus dem Stoff eines aufgetrennten Kleides eine Bluse für mich. Nach zweimaligem Anprobieren war gucken verboten, schließlich war es mein Weihnachtsgeschenk. Was sollte ich meiner Mutter schenken? Eine Freundin hatte aus aufgeriffelter Pulloverwolle ein Paar Bettschuhe gehäkelt. Darüber würde sich meine Mutter freuen. Sie hatte oft kalte Füße. Die Freundin bekam von mir zwei Apfelsinen zu Weihnachten.

„Soll ich ein paar Plätzchen backen?“, fragte ich Mutter. Das wollte sie lieber selbst tun. „Ich habe nur noch Mehl, etwas Haferflocken und ein paar Tropfen Öl und ein Ei.“ Mutter backte Kriegs-Weihnachtsplätzchen nach ihrem Geheimrezept. Ich glaube, die wichtigste Zutat, war sowieso die Liebe zur Familie.

Duisburg in Trümmern

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