Duisburg. . Analphabetimus isoliert und macht den Alltag zur Herausforderung. Und das Problem ist keineswegs selten: 20 000 bis 30 000 Erwachsene in Duisburg können nicht richtig Lesen und Schreiben, schätzt die VHS.
Das ABC steht neu auf dem Stundenplan für tausende frischgebackene Erstklässler. Dabei ist Lesen- und Schreibenkönnen auch im Erwachsenenalter keine Selbstverständlichkeit: 20.000 bis 30.000 Duisburger sind funktionale Analphabeten, so der Fachbegriff: Ihre Schreib- und Lesekompetenzen sind so begrenzt, dass sie am gesellschaftlichen Leben nicht angemessenen teilhaben können.
„Der Alltag für die Betroffenen ist stark beeinträchtigt: Sie können beispielsweise die Speisekarte oder Gebrauchsanweisungen nicht verstehen, Behördenformulare nicht ausfüllen, geschweige denn eine Zeitung lesen“, sagt Friedhelm Ufermann, Arbeitsstellenleiter bei der VHS Rheinhausen und u.a. zuständig für die Alphabetisierungskurse.
Vor über dreißig Jahren war er Vorkämpfer, um in Duisburg die ersten Schreib- und Lesekurse für Erwachsene anzubieten. „Das war damals noch völlig exotisch.“ Mittlerweile werden sieben Kurse angeboten. Pro Jahr nehmen etwa 100 Betroffene teil – freilich nur die Spitze des Eisbergs aller, die häufig geschickt und unter Aufbringung großer Kräfte ihr Problem zu verbergen wissen.
Mit Vermeidungsstrategien das Problem vertuschen
Durch seine jahrelange Erfahrung in der Arbeit mit Analphabeten weiß Ufermann, wie die Lese- und Schreibdefizite das Leben zur täglichen Herausforderung machen: Jedes Formular, jeder Behördengang sind ein Problem – oft sind wenige Nahestehende eingeweiht, die in solchen Situationen helfen. „Die Betroffenen brauchen ein gutes Gedächtnis, sie können sich nicht wie wir einfach Dinge notieren. Außerdem entwickeln sie clevere Vermeidungsstrategien, um ihren Analphabetismus zu vertuschen.“ Lesebrille vergessen, Ausreden, Herumdrucksen. Analphabeten fallen so auch dort nicht auf, wo viele sie ohnehin nicht vermuten würden: Viele sind berufstätig, haben sogar einen Schulabschluss. „Die hat man irgendwo in die letzte Bank gesetzt und mit durchgezogen“, berichtet er.
Betroffenen Mut zur Weiterbildung machen
„Für Menschen, die unsere Kurse besuchen, ist das ein Riesenschritt.“ Der mutigen Entscheidung zum späten Lesen- und Schreibenlernen, das je nach Voraussetzungen Jahre dauern kann, geht häufig ein konkreter Auslöser voraus: Der Chef will seinen fleißigen Mitarbeiter zu einer Gabelstaplerschulung schicken – „für einen Analphabeten bedeutet das eine Lebenskrise“, weiß Ufermann; das Kind wird eingeschult und Mama wird klar, dass sie ihm nicht bei den Hausaufgaben helfen kann.
Ufermann will möglichst vielen Betroffenen Mut machen sich weiterzubilden. „Wir erreichen sie über Multiplikatoren“, sagt wer. Soll heißen: Menschen, die von Analphabeten in ihrem Umfeld wissen, hören von den Möglichkeiten der Weiterbildung bei der VHS und machen ihnen Mut, etwas dagegen zu tun. Auch mit dem Jobcenter arbeitet die VHS eng zusammen. In Gesprächen mit den Beratern würden die Probleme häufig augenscheinlich. Dann braucht es jede Menge Fingerspitzengefühl: „Wir müssen den Menschen klar machen, dass sie weder krank noch dumm sind, dass sie mit ihrem Problem nicht allein sind und, dass wir helfen können.“