Duisburg. Sie sind die ersten, die an dieser Gesamtschule in Duisburg das Abitur machen. Dabei hatten 90 Prozent eine Hauptschulempfehlung. Wie das gelang.
Die letzte Abitur-Prüfung haben sie hinter sich, jetzt fehlen nur noch die Noten, der Abiball und dann war es das mit der Schule. Zugetraut haben es ihnen viele nicht, an der Green-Gesamtschule in Duisburg sind sie sogar die allerersten ihrer Art: Der erste Abiturjahrgang einer Schule, die schon Realschule war und Sekundarschule, deren Schulsozialindex bei 7 liegt.
Jilliane Jentsch, Imad Elias und Aleksander Smaga gehören zu den Schülern, denen in der Grundschule kein Abitur zugetraut wurde, deren Elternhaus kein Durchmarsch am Gymnasium versprach, die wie ihre Mitschüler in der Jahrgangsstufe zu 90 Prozent eine Haupt - oder Realschulempfehlung hatten. Nur jeder zweite der 90 Schüler bekam eine Zulassung zum Abitur. Gemeinsam mit ihren Lehrerinnen und Lehrern wagten sie das Experiment Oberstufe. Und sind schon jetzt stolz wie Bolle, allen Widerständen zum Trotz ihr Abitur zu machen.
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Abiturienten in Duisburg: Bildungserfolg nicht in die Wiege gelegt
Ihre Noten bekommen sie erst am 11. Juni, aber alle haben ihr Bestes gegeben und sind sicher, bestanden zu haben. Imad könnte als Einser-Kandidat sogar im Wettbewerb um das beste Abitur von Duisburg mitmischen.
Dabei sind seine Rahmenbedingungen denkbar schwierig. Der 20-Jährige flüchtete aus dem Irak, lernte in Duisburg Deutsch, bevor er in der 7. Klasse einsteigen konnte. Jilliane wird die Erste in ihrer Familie sein, die die Allgemeine Hochschulreife in der Tasche hat und damit studieren will. Aleksander fühlte sich in der Grundschule schon zurückgesetzt. Schon mit 10 habe er das Schulsystem als „ungerecht“ empfunden, als belastend. Seine Eltern ließen ihm viel Freiheit. „Sie haben mir vertraut“, aber erst, als auch eine Lehrerin in ihm keinen Lern-„Roboter“ sah, sondern einen freien Vogel, bei dem es irgendwann Klick machen werde, sich sein helles Köpfchen zeige, fühlte er sich ermutigt.
Green-Gesamtschule fordert eine Bildungswende
Ab Oktober will der 19-Jährige an der Uni Duisburg Nano-Engineering studieren. „Mich macht das stolz“, sagt Aleksander, „ich bin der Schule sehr dankbar“. Dass die Green-Gesamtschule anders tickt als andere Schulen, merkt man schon am Eingang. Überall hängen Plakate, die eine Bildungswende fordern. Dafür sind in letzter Zeit immer wieder Schüler mit zu Demos gekommen. „Hier sind wir Menschen, keine Zahl“, begründet es Aleksander. Chancengleichheit werde hier gelebt, „an anderen Schulen wäre ich untergegangen, hier konnte ich richtig aufblühen“.
Jilliane bestätigt: „Die Lehrer achten darauf, in jedem Schüler Potenziale zu sehen.“ Sie selbst sei lange ein „Problemkind“ gewesen, das abhaut, störrisch ist. Regelmäßig wurde ihre Mutter in die Schule zitiert. „Auch meine Noten waren nur semi, da hab ich zu hören gekriegt: Aus dir wird nix.“ Lehrer entdeckten dann aber ihre Talente in Deutsch, in Kunst. Diesen „perfekten Vorbildern“ will sie jetzt nacheifern, Lehrerin werden, Kunst und Deutsch studieren. Ihre Kunstmappe wurde bereits angenommen, freut sich die 18-Jährige.
„Der ist so schlau, das ist gruselig“
Dass Imad Elias mal zu den Besten seines Jahrgangs gehören würde, war zu Beginn seines Schülerdaseins auch nicht so klar. „Der ist so schlau, das ist gruselig“, betont Jilliane anerkennend. Wegen des Kriegs habe er oft die Schule wechseln müssen, dabei „explodierte meine Motivation zusammen mit den Häusern um mich herum“. Die Familie folgte Ende 2016 der Mutter nach Deutschland. Wenige Monate später war er schon fit in Deutsch, landete aber in einer Integrationsklasse. „Außer mir waren da nur Syrer, da hab ich dann Arabisch statt Deutsch gelernt.“
Imad entwickelte sich zum Kämpfer, forderte den Zugang in eine Regelklasse ein. „Eine Lehrerin hat mir nachmittags Nachhilfe gegeben“, erzählt er dankbar, ein Lehrer suchte ihm in seiner Freizeit Übungstexte heraus, damit er an Grammatik-Problemen arbeiten kann. „Ich wollte schnell voran kommen. Es ist eine Katastrophe, in einem Land zu leben, wenn man die Sprache nicht spricht.“
Hilfe kam auch über das Ruhr-Talente-Stipendium, das ihn ideell und materiell förderte. Computer und Bahnkarte auf der einen Seite, Workshops und Seminare auf der anderen weckten den Ehrgeiz in ihm, sich auch ehrenamtlich zu engagieren.
Diese Kinder müssen viel schneller erwachsen werden
Jetzt spricht er akzentfrei Deutsch, setzt sich für die Glaubensgemeinschaft der Jesiden ein. Überlegungen zu völkerrechtlichen Fragen, zu Gerechtigkeit und Vielfalt in der Gesellschaft will er in einem Jura-Studium vertiefen – wenn es dazu kommt. Sein Aufenthaltsstatus ist in Gefahr, weil der Irak inzwischen als sicheres Herkunftsland gilt. Für Jesiden galt eine Abschiebung im vergangenen Jahr noch als „unzumutbar“, inzwischen seien aber hunderte Jesiden abgeschoben worden, sagt Imad. Ihm bereitet das große Sorgen, gerade erst war er in Berlin, sprach mit Politikern. Er möchte eingebürgert werden.
Existenzielle Sorgen begleiten Kinder aus armen oder zugewanderten Familien häufig, „sie müssen viel schneller erwachsen werden“, sagt Schulleiterin Nicole Schlette. Sie haben Verpflichtungen, müssen Aufgaben übernehmen, statt nachmittags in den Sportverein zu gehen. Die 18-jährige Jilliane zum Beispiel wohnt schon alleine, jobbt neben der Schule und unterstützt finanziell ihre Mutter. Imad hat schnell die Korrespondenz der Eltern übernommen. Jobcenter-Briefe seien eine besondere Herausforderung gewesen, „da verstehst du nix, ich musste mir alles ergoogeln“.
Feierliche Zeugnisvergabe in der ramponierten Schule
Feierliche Kleidung für die Abizeugnis-Verleihung haben die drei noch nicht, Aleksander ist vorsichtig, will erst die Noten abwarten. Imad schaut an seinem karierten Hemd runter und überlegt, ob das wohl reichen könnte. Auch Jilliane sieht sich noch nicht im feinen Fummel.
Für die knapp 45 allerersten Abiturienten will die Schule in der Aula eine Feier ausrichten, Ehrengäste sind geladen. „Für große Bälle haben die Familien kein Geld“, weiß Schlette, dennoch soll es feierlich und schick werden. Soweit das möglich ist. Die Schule ist eine echte Bruchbude.
Wenn es stark regnet, verteilt Schlette in ihrem Büro Katzenstreu unter den Fenstern, damit es später nicht schimmelt. Die Toiletten in den Gebäuden sind teilweise nicht benutzbar, selbst im „Neubau“, wie ein Bautrakt aus den 80er Jahren immer noch genannt wird. 100 Millionen Euro sollen jetzt in einen echten Neubau fließen.
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>> DIE GREEN-GESAMTSCHULE
- Die Green-Gesamtschule wurde 2020 am Körnerplatz in Rheinhausen gegründet. Zuvor war sie seit 2015 Sekundarschule im Gebäude der Realschule.
- 1200 Kinder besuchen die Schule, die damit zu den größten in Duisburg gehört. Herkunft soll kein Hindernis sein, betont Schulleiterin Nicole Schlette. Deshalb engagieren sich die Lehrkräfte, „übernehmen auch Aufgaben aus dem Elternhaus“.
- 2021, noch während der Pandemie, ehrte Bundespräsident Walter Steinmeier sie mit dem Deutschen Schulpreis. Geehrt wurde, dass das Kollegium die Zusammenarbeit in Teams gefördert und entwickelt hat und damit auch in Corona-Zeiten gut gefahren ist.
- Weitere Infos: www.green-gesamtschule.de