Duisburg. Sie gehen dahin, wo Stühle fliegen: Warum vier junge Sonderpädagoginnen frisch aus dem Referendariat jetzt an einer Duisburger Förderschule sind.

Die Schule: Eine Dauerbaustelle. Die Kinder: herausfordernd ohne Ende. Der Standort: Duisburg-Nord. Und dann sitzen da vier extrem gut gelaunte junge Frauen, die ab Mai an genau dieser Alfred-Adler-Förderschule in Walsum ihren Job als Beamte auf Probe antreten und damit richtig glücklich sind.

Künftig arbeiten sie mit Kindern, die im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung Förderbedarf haben, zugleich aber auf Grund- und Hauptschulniveau unterrichtet werden.

Lorena Schmeing, Finja Schmeing (nicht verwandt), Louisa Hartstock, und Melissa Momm kennen alle Vorurteile. Aber nach dem Sonderpädagogik-Studium und ihrem Referendariat wissen sie, dass sie hier richtig sind. Und dringend gebraucht werden. In Duisburg liegt die Lehrerversorgungsquote an Förderschulen bei 76,39 Prozent.

Manche Sonderpädagogen sind nach dem Referendariat einfach „fertig“

Die Alfred-Adler-Schule steigt mit den Neueinstellungen auf eine 90-Prozent-Quote. „Das ist längst nicht das Niveau, das wir brauchen, um den Kindern gerecht zu werden“, sagt Schulleiter Torsten Marienfeld. Aber genug, um sich fast zu schämen gegenüber jenen Schulen, die mit einem noch schlechteren Lehrer-Schüler-Verhältnis kämpfen.

Wenn die vier von den Zukunftsplänen ihrer Kommilitonen berichten, wird Marienfeld ganz anders. Viele seien nach dem Referendariat so „durch“, dass sie sich nicht gleich im Anschluss anstellen lassen, erzählen sie. „Viele sind so fertig, dass sie bis zum Sommer nichts machen wollen oder nur mit wenigen Stunden Vertretungslehrer werden“, sagt Finja Schmeing.

Auch Duisburg kommt in der Wahrnehmung nicht gut weg. Manche ihrer Mit-Studenten hätten eher einen Referendariats-Platz abgelehnt, als etwa von Paderborn an den Rhein zu ziehen. „Viele glauben, wenn du einmal in Duisburg bist, kommst du da nicht mehr weg“, erzählt Melissa Momm. Umgekehrt würde Marienfeld allerdings auch nicht nach Paderborn wollen, sagt er grinsend.

Sonderpädagogen an Förderschule in Duisburg: „Hier gibt es keinen Stillstand“

Louisa Hartstock stammt aus Walsum, die 28-Jährige hat nach dem Abitur schon mal ihre Nase in die Adlerschule gesteckt, weitere Schulen getestet. „Hier hat es mir am besten gefallen, das pädagogische Konzept überzeugte, die Arbeit, die hier geleistet wird, die Fortbildungen. Hier gibt es keinen Stillstand.“

Die Zeit an einer Gesamtschule hat Lorena Schmeing auch eher abgeschreckt. Im Rahmen des Gemeinsamen Lernens wurden dort Kinder mit Förderbedarf unterrichtet. „Aber das war nicht auf Augenhöhe. Sie wurden als Störer wahrgenommen, als unangenehme Menschen“, bedauert sie. Und Melissa Momm stellte an einer Grundschule fest, dass es eine ganz andere Herausforderung ist, wenn man als einziger Sonderpädagoge für eine ganze Schule da ist: „Da muss man dann Abstriche machen, man kann so viele Gespräche gar nicht führen.“

Die Alfred-Adler-Schule in Duisburg ist seit Jahren eine Großbaustelle. Neubauten fehlen, Container ersetzen fehlende Klassen.
Die Alfred-Adler-Schule in Duisburg ist seit Jahren eine Großbaustelle. Neubauten fehlen, Container ersetzen fehlende Klassen. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

„Hier knallt es am Anfang“

Die ersten Wochen in einer Klasse seien schon an Regelschulen heftig, weil sich die Kinder ausprobieren, die Grenzen des neuen Gegenübers austesten wollen. „Aber an Förderschulen knallt es am Anfang“, hat Lorena Schmeing erlebt. An der Adler-Schule konnten sie allen Herausforderungen zum Trotz im Referendariat sanfter einsteigen, weil sie erst mal beobachten durften an der Seite erfahrener Pädagogen, bevor sie eigene Stunden leiteten.

Die „ESE“-Kinder, also ihre Schülerschaft mit emotional und sozial herausforderndem Verhalten, haben meist schon viel mitgemacht. Weil sie im Regelsystem nicht akzeptiert wurden, „unglaubliche Enttäuschungen und Frust erlebt haben“, haben sie hier mehr Fürsorge verdient, finden die Lehrerinnen.

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Das Handy ist im Unterricht griffbereit, um Hilfe herbeirufen zu können

Ab dem 2. Mai werden sie jeweils 27 Stunden pro Woche unterrichten. Neben den Fächern, die sie studiert haben, sind das auch alle, in denen sie kurzfristig vertreten müssen. „Mathe in der 10 ist herausfordernd“, sagt Lorena Schmeing, die Deutsch und Religion studiert hat. „Um die Themen erklären zu können, muss ich viel zu Hause vorbereiten. Die Zentralen Abschlussprüfungen stehen bald an.“

„Treten, Schlagen, Beißen, massives Schreien, das gehört hier dazu“
Torsten Marienfeld - Schulleiter

Aber rund 50-mal am Tag müssen sie entscheiden, ob das Fach gerade wichtig ist oder das Zwischenmenschliche. Nicht selten muss Hilfe über den Flur geholt oder herbeitelefoniert werden. Schon zum Selbstschutz muss das Handy immer griffbereit sein. „Treten, Schlagen, Beißen, massives Schreien, das gehört hier dazu“, verdeutlicht Schulleiter Marienfeld. Wenn ein Kind in Rage sei, müssten Konflikte erst mal abkühlen.

Die Schule arbeite sehr präventiv. „Ist ein Kind erst mal in einer Eskalationsspirale, kriegt man es nicht mehr eingefangen“, weiß er. Insgesamt steige der Anteil an psychischen Auffälligkeiten in der Schülerschaft „massiv“. Deshalb werden Schüler mit Wut im Bauch schnell in eine andere Klasse gebracht, zum Schulsozialarbeiter oder gar zum Chef, „das reicht manchmal, damit zu drohen“, erzählt Melissa Momm.

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Das Kollegium unterstützt sich gegenseitig

Louisa Hartstock erlebte gerade erst, wie ein Kind „komplett steil gegangen ist und mit Sachen geschmissen hat“, weil es mangels Sportzeug nicht beim Sport mitmachen durfte. „Das kann einen auch kaputt machen“, sagt Lorena Schmeing, ohne Rückhalt, ohne ein gutes Team sei der Job nicht machbar. Dankbar sind die Junglehrerinnen, dass sie an der Schule immer jemanden finden, mit dem sie sich austauschen können, dass das Kollegium zusammenhält, sich unterstützt.

Im Familien- und Freundeskreis sei die Betroffenheit groß, wenn sie aus ihrem Berufsalltag erzählen. „Die schütteln nur mit dem Kopf.“ Aber davon lassen sie sich nicht abschrecken, sie sind jetzt Teil des Teams.

>DIE ALFRED-ADLER-FÖRDERSCHULE

  • Die Alfred-Adler-Förderschule kümmert sich um 215 Schülerinnen und Schüler. Die Klassen sind klein, Sonderpädagogen fördern die Kinder individuell.
  • Der Förderschwerpunkt liegt im Bereich Emotionale und Soziale Störung.
  • Die Schüler können hier einen Hauptschulabschluss nach Klasse 9 und 10 machen. Grundsätzlich wird aber in allen Jahrgängen geprüft, ob eine Rückschulung ins Regelsystem möglich ist.
  • Weitere Infos auf der Webseite https://alfredadler-schule.de

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