Duisburg-Marxloh. Die „deutsche Leitkultur“ gilt in Marxloh als Schreckgespenst, das die Integration behindert. Warum der Begriff in Duisburg jetzt Ängste auslöst.
Die Leitkultur möchte sich die CDU in ihr neues Grundsatzprogramm schreiben. In Marxloh ist sie ein Schreckgespenst, das Angst, aber auch Zorn auslöst. Die örtlichen Christdemokraten lehnen diesen Begriff ebenso ab wie viele Menschen aus dem Duisburger Norden.
Schützenhilfe bekommen sie jetzt vom bekannten CDU-Politiker Ruprecht Polenz. Der ehemalige Generalsekretär und frühere Bundestagsabgeordnete kämpft ebenfalls gegen den Begriff und hat darüber jetzt mit Marxloherinnen und Marxlohern gesprochen. Aus seinem Vortrag wurde eine emotionale Diskussion über Rassismuserfahrungen und Ängste – aber auch über mögliche Lösungen für den stigmatisierten Stadtteil.
Leitkultur in Marxloh: Reicht der deutsche Pass, um deutsch zu sein?
„Deutsch ist, wer einen deutschen Pass hat. Punkt“, schickt der Jurist Polenz voraus und will sich auch der Frage widmen, was Deutschsein im 21. Jahrhundert bedeutet. Doch reicht der deutsche Pass? Diese Erfahrung machen Deutsche mit Migrationshintergrund nicht, denn die Alteingesessenen erwarten von ihnen bestimmte Verhaltensweisen. Für ein gelungenes Zusammenleben brauche es Regeln, betont Polenz, und sieht eine ganz wichtige im Grundgesetz, in dem etwa die Menschenwürde und die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau verankert ist.
Bei Konflikten zwischen kulturellen Normen, Religionen und Gebräuchen gehe das Gesetz in Deutschland und anderen säkularen Staaten vor. „Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft“, betont Ruprecht Polenz, „und Deutschsein im 21. Jahrhundert heißt Vielfalt zu leben“. Für ein friedliches Zusammenleben der unterschiedlichen Kulturen und Religionen hält er die Integration für besonders wichtig und wer sich Integrationsprobleme ansehen wolle, könne auf Marxloh schauen.
Alteingesessene Marxloher fühlen sich inzwischen fremd in ihrer Heimat
Das bestätigt auch der Marxloher CDU-Vorsitzende Deniz Güner. Durch die vielen Probleme wie eine hohe Arbeitslosigkeit, zu wenig Kindergärten, Grundschulen und Polizeibeamte habe sich der Stadtteil zu einem sozialen Brennpunkt verfestigt, in dem ein Großteil der Einwohner nun einen Migrationshintergrund hätte und die meisten neu eingeschulten Kinder kein Deutsch könnten. „Die Alteingesessenen erkennen ihren Stadtteil nicht mehr wieder, sie fühlen sich fremd in ihrer Heimat und das führt zu Zukunftsängsten.“ Ein unschöner Reflex sei dann die Diskussion über die deutsche Leitkultur.
„Leitkultur löst keines unserer Probleme“, so Güner. Tatsächlich schürt die Debatte darüber in Marxloh Unsicherheit unter den Menschen mit Migrationshintergrund, wie eine Handvoll junger Männer aus dem Umfeld des Petershofs bestätigen. Sie säe Zwietracht und verstärke Vorurteile, was vor allem rechtsextremen Parteien helfe. „Wir haben hier große Angst, dass die AfD richtig stark wird“, sagt ein Zuhörer.
Einige Probleme könnte eine gute Integration lösen, ordnet Polenz ein. Für den Erfolg seien Deutschkenntnisse notwendig, weshalb er neben einer Schulpflicht auch eine Kita-Pflicht für sinnvoll hält, damit Kinder beim Spracherwerb „intensive Hilfe“ bekommen können. Die Idee kommt bei seinen Marxloher Parteifreunden gut an. Dass alle Kinder aus einer Nachbarschaft sich im Kindergarten kennenlernen, so Polenz weiter, solle Berührungsängste und Vorurteile abbauen – wie es früher im Ruhrgebiet bei Bergleuten unter Tage geschehen ist.
„Wenn wir wollen, dass Integration gelingt, ist Bildung ganz zentral“, sagt der Münsteraner, „im Idealfall sind die besten Schulgebäude und die besten Lehrerinnen und Lehrer im sozialen Problemgebiet. Das ist aber nicht die Realität.“ Dennoch gebe es junge Türkinnen und Türken, die in Deutschland gerade „Pionierleistungen“ erbringen, indem sie erstmals Berufe ergreifen, für die ihre Großeltern oder Eltern nicht den Bildungsstand hatten. Ärzte oder Bauingenieurinnen zum Beispiel. Er prognostiziert ihnen denselben Erfolg wie Einwanderinnen und Einwandern aus dem Iran, die „längst ganz hervorragende Mediziner sind“ und von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert.
Integration darf keine Einbahnstraße sein und fordert die ganze Gesellschaft
Integration sei keine Einbahnstraße, betont der bekannte Christdemokrat, „und gesellschaftlicher Zusammenhalt lässt sich nicht durch Gesetze herstellen“. Dazu brauche es den Willen auf beiden Seiten. Polenz vergleicht es mit einem Bolzplatz, wo die Alteingesessenen einerseits die Neulinge mitspielen lassen wollen und andererseits die Neulinge auch mitspielen wollen.
Zwar stimmen dem viele der Anwesenden zu. Doch ganz so einfach ist es in Marxloh eben doch nicht, wie Diskussionsteilnehmer Mario Gröbner ausführt. In seiner direkten Nachbarschaft lebe er im einzigen deutschen Haushalt. Das mache eine Integration fast unmöglich. Tatsächlich sprechen viele der Zuhörer in ihren Familien Türkisch, Kurdisch oder Arabisch, räumen Anwesende ein. Doch untereinander sei oft Deutsch die „Hauptsprache“, gerade bei interkulturellen Gruppen.
Dennoch schildert das Publikum viele Rassismuserfahrungen. Wenn es sie einen Arzttermin ausmachen wollen oder bei der Wohnungs- oder Jobsuche. Doch auch Zuhörer mit Migrationshintergrund sind vor Vorurteilen nicht gefeit. So verlangt etwa ein Teilnehmer, bei den Bulgaren und Rumänen müsse man „endlich mal auf den Tisch hauen“ und hart durchgreifen. Dies zeigt, wie komplex die Schwierigkeiten in Marxloh mitunter sind.
Allerdings sagt Ruprecht Polenz voraus, dass sich viele der aktuellen Probleme in gut 20 Jahren gelöst haben könnten. Sofern die Kinder mit Migrationshintergrund, die jetzt in der Kita sind, ausreichend gefördert werden und Aufstiegschancen durch Bildung erhalten. Spätestens, wenn die unterschiedlichen Kulturen in Deutschland die gleiche Sprache sprechen, miteinander arbeiten und untereinander heiraten, sei die Integration gelungen. „Soweit sind wir noch nicht“, räumt Ruprecht Polenz ein.
Ein CDU-Grundsatzprogramm, das auf eine Leitkultur verweist, würde aber einen Rückschritt bedeuten und dem Integrationsziel schaden. Da sind sich alle im Saal einig und verabschieden den Redner mit einem ganzen Pfund Duisburger Baklava.
>> Doppelmoral bei der Integration?
- Gibt es eine Doppelmoral bei der Integration? Ruprecht Polenz kennt mehrere Beispiele dafür: Selbstverständlich könne man Mutter und Vater lieben. Warum glauben viele Deutsche aber, man könne nicht Deutschland und die Türkei (oder ein anderes Geburtsland) lieben?
- Nach islamistischen Terroranschlägen – etwa von der Hamas in Israel – wird von Muslimen in Deutschland meist verlangt, dass sie sich davon distanzieren. Das unterstelle, sie würden die Anschläge sonst billigen. Dagegen habe nie jemand unterstellt, dass alle Katholiken, die sich nicht öffentlich von Missbrauchsskandalen in der Kirche distanzieren, diese billigen.